Zum Inhalt springen

Volksheld hinter Gittern

Nach seiner Rede in São Bernardo wurde Lula auf Schultern durch die Menge getragen. In der Ansprache hatte der PT-Politiker für die große Solidarität gedankt. Er pries die jüngeren linken Präsidentschaftskandidaten – die Kommunistin Manuela d’Ávila und Guilherme Boulos (PSOL) – Foto: Ricardo Stuckert
 
Seine Verfolger haben ihr großes Ziel erreicht: Der frühere Präsident Brasiliens, Gewerkschaftsführer und Gründer der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT), Luiz Inácio Lula da Silva ist nicht mehr in Freiheit. Am Sonnabend gegen 19 Uhr (Ortszeit) verließ Lula das Gebäude der Metallarbeitergewerkschaft der sogenannten ABC-Industrieregion von São Paulo in einem Zivilfahrzeug der Bundespolizei. Es gelang ihm erst im zweiten Versuch, das Haus zu verlassen, über einen Nebenausgang. Tausende Demonstranten blockierten die Straße und wollten verhindern, dass die Polizei seiner habhaft würde.

Dem Politiker steht eine zwölfjährige Gefängnisstrafe bevor, die er zu Unrecht erhielt. Er ist der Kandidat der PT für die im Herbst anstehenden Präsidentschaftswahlen. Diese hat angekündigt, daran ungeachtet seiner Verurteilung wegen Korruption und Geldwäsche festzuhalten. In einem konstruierten Prozess war Lula der verschleierte Besitz einer Luxusimmobilie vorgeworten worden, mit der ihn ein Baukonzern bestochen habe. Dürften die Wähler frei entscheiden, hätte er beste Chancen, nach 2002 und 2006 ein drittes Mal das Rennen zu machen. Es ist allerdings damit zu rechnen, dass Brasiliens Wahlgericht Lulas Kandidatur verbieten wird.

Bereits seit dem vergangenen Mittwoch versammelten sich in Lulas Wohnort São Bernardo do Campo, an der „Wiege der PT“, Tausende Anhänger der linken Parteien und Bewegungen. An diesem Tag befasste sich in Brasília der Oberste Gerichtshof (STF) mit einem Antrag, mit dem Lulas Anwälte erreichen wollten, dass der in zweiter Instanz verurteilte Politiker bis zur Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten zur Abwendung der Strafe frei bleibt. Sie beriefen sich dabei auf rechtsstaatliche Grundsätze und eine entsprechende Bestimmung in der brasilianischen Verfassung. Mit sechs zu fünf Stimmen lehnten die Richter des Tribunals nach Mitternacht Lulas Antrag schließlich ab. Die die Arbeiterpartei und deren Führer kriminalisierenden konservativen Leitmedien hatten im Vorfeld große Geschütze aufgefahren. Generäle sprachen dort über ein mögliches Eingreifen des Militärs in die Politik, sollte Lula nicht aus dem Verkehr gezogen werden.

thumbnail of 2018-04-09-Volksheld hinter GitternAuf das grüne Licht vom STF hatte in Curitiba Lulas erstinstanzlicher Richter Sérgio Moro, Star der rechten Presse, nur gewartet. Eine 15-Quadratmeter-Zelle, wie sie Gefangenen von Rang nach dem Gesetz zusteht, hielt er in einem besonderen Trakt im obersten Stock des dortigen Polizeigefängnisses für den von ihm so ersehnten „Gast“ schon bereit. Wie das gesamte Verfahren gegen Lula, so lief auch dieser Akt in einem Tempo ab, welches die Justiz des Landes sonst absolut nicht auszeichnet. Ein regionales Bundesgericht gab Moro nur Stunden nach der Entscheidung in Brasília sein Ok. Der benötigte danach schlappe 19 Minuten, um die Ladung zum Haftantritt zuzustellen.

Bis Freitag nachmittag 17 Uhr (Ortszeit) hatte sich Lula bei der Polizei in Curitiba einfinden sollen. Doch der ließ diese Frist verstreichen. In allen Metropolen gingen Menschen auf die Straße, um gegen die politische Verfolgung des populären Politikers zu protestieren. Landesweit sperrten Aktivisten der Landlosenbewegung MST mit Barrikaden Fernverkehrsstraßen. Während die Verteidiger des PT-Führers weiter erfolglos versuchten, mit Einsprüchen beim Obersten Gericht einen Haftantritt abzuwenden, folgten auch immer mehr Aktivisten dem Ruf nach São Bernardo, zur traditionellen Stätte großer Kämpfe der Arbeiterbewegung. In der dortigen Gewerkschaftszentrale hatte Lula Quartier bezogen.

Die Demonstranten umringten das Gebäude Tag und Nacht. Alle prominenten linken Politiker des Landes erschienen, um zu den Aktivisten zu sprechen, etliche Musiker traten auf, um ihre Solidarität mit Lula zu zeigen. Die Medien der Globo-Gruppe waren von einer Berichterstattung vor Ort ausgeschlossen. Hubschrauber des Fernsehens und der Polizei waren unentwegt am Himmel über São Bernardo zu sehen und zu hören. Starke Polizeikräfte hielten sich bereit, ein Greiftrupp zur Verhaftung Lulas lag in Reserve.

In Verhandlungen mit den Behörden wurde schließlich vereinbart, dass sich Lula am Sonnabend nachmittag in einem – soweit möglich würdigen Prozedere – in die Hände der Justiz begeben würde, um von São Paulos Flughafen Congonhas aus mit einer Maschine der Bundespolizei nach Curitiba überstellt zu werden. Es ist nicht das erste Mal, dass Lula im Gefängnis landet: 1980, ebenfalls an einem Apriltag und ebenfalls in São Bernardo, wurde er als Streikführer der Metallarbeiter durch die politische Polizei des Militärregimes, DOPS, verhaftet. Gegen ihn und andere prominente Gewerkschafter wurde das diktatorische „Gesetz für nationale Sicherheit“ angewendet. Nach einem Hungerstreik und großen Massenprotesten kam er aus dem Gefängnis in São Paulo nach einem Monat wieder frei. Zuvor, im Februar desselben Jahres, war in São Paulo die PT als Zusammenschluss verschiedener linker Strömungen gegründet worden.

Mehr dazu: Kommentar 

Schwarzer Tag für Brasilien

Am Morgen seines letzten Tages in Freiheit wohnte Lula zusammen mit den hier versammelten Tausenden einer Messe unter freiem Himmel für seine im vergangenen Jahr verstorbene Frau Marisa Letícia bei. Bevor er sich von seinen Anhängern verabschiedete, hielt der Politiker, der sich mit seiner Sozialpolitik und als Staatsmann weltweit Achtung verschafft hatte, noch eine Rede für die Geschichtsbücher. Man wolle ihn zum Schweigen bringen, doch es gäbe in Brasilien längst „Tausende Lulas“. Der PT-Politiker und frühere Bürgermeister von São Paulo Fernando Haddad sagte gegenüber dem Sender TVT: „Jeder weiß, dass Lula politisch verfolgt wird, dass ihm dieses Appartement nicht gehört, dass seine Haft eine politische ist. Man hat ihn verurteilt, um ihn von der Wahl auszuschließen.“

Mit Tränengas und Blendgranaten ging die Polizei in Curitiba gegen Lulas Anhänger vor. Rechte Demonstranten durften währenddessen unbehelligt dessen Einkerkerung feiern und ein Feuerwerk veranstalten (Foto: José Eduardo Bernardes)

In Curitiba erwartete Lula bei seiner Ankunft nicht nur das Gefängnis. Auch hier waren Tausende Demonstranten unterwegs, die weitaus meisten trugen Rot. Am späten Abend ging die Polizei brutal gegen die Linken vor, mehrere Aktivisten erlitten ernste Verletzungen.

Von Peter Steiniger. Erschienen in junge Welt, Ausgabe vom 09.04.2018, Seite 3 / Schwerpunkt, Link

 SIE KÖNNEN EINE, ZWEI ODER DREI BLÜTEN AUSREISSEN …

Auszüge aus der letzten Rede von Lula da Silva vor dem Gang ins Gefängnis, São Bernardo, 7.4.2018„Hier (in São Bernardo, jW) war meine Schule, hier lernte ich Soziologie, Ökonomie, Physik, Chemie und viel darüber, wie man Politik macht. Denn in den Zeiten, als ich Vorsitzender dieser Gewerkschaft war, gab es in den Fabriken 140.000 Lehrer, die mir beibrachten, wie man das angeht.“

„Ich habe keine Angst vor ihnen. Ich würde mich sogar gern einer Debatte mit Moro (sein Richter, jW) über seine Anklage gegen mich stellen. Ich hätte gern, dass er mir irgendeine Art von Beweis zeigt.“

„Schon vor langer Zeit hatte ich den Traum, dass es möglich wäre, dieses Land so zu regieren, dass Abermillionen arme Menschen an der Wirtschaft teilhaben, dass Millionen an die Universitäten gelangen, dass viele Millionen Arbeitsplätze entstehen. Ich träumte davon, dass Schüler vom Rand der Städte die besten Universitäten dieses Landes besuchen können. Damit wir nicht nur Richter und Staatsanwälte aus den ›Eliten‹ hätten.“

„Wir werden unbedingt die Medien regulieren, damit das Volk nicht Tag für Tag ein Opfer der Lügen wird.“

„Die Geschichte wird schon bald zeigen, dass derjenige, der ein Verbrechen beging, der Kommissar war, der mich anklagte, der Richter, der mich verurteilte …“

„Sie werden begreifen müssen, dass der Verlust eines Kämpfers die Revolution nicht aufhält.“

„… ich möchte mit einem Satz schließen, den ich 1982 in Catanduva von einem zehnjährigen Mädchen hörte. (…) Er lautet: Die Mächtigen können eine, zwei oder drei Blüten ausreißen, aber niemals wird es ihnen gelingen, die Ankunft des Frühlings aufzuhalten.“