Sie kamen am Morgen des 14. Juni. Dutzende Bewaffnete, die Gutsbesitzer aus der Gegend und ihre Männer. Von Kleintransportern und Motorrädern eröffneten sie das Feuer auf die Menschen in Toro Passo, einem Teil des Landgutes Yvu bei der Stadt Caarapó inmitten des südöstlich gelegenen brasilianischen Bundesstaates Mato Grosso do Sul.
Der 26jährige Krankenpfleger Cloudione Rodrigues Souza wurde tödlich getroffen, sechs weitere Opfer des Angriffs erlitten Schussverletzungen, darunter ein Kind im Alter von zwölf Jahren. Der Überfall galt einer Gruppe von Guaraní-Kaiowá, der größten präkolumbischen Ethnie in Brasilien. Erst drei Tage zuvor hatten die Familien das Stück Land besetzt. Es liegt im Indigenen-Territorium Dourados-Amambaipeguá. Auf 56.000 Hektar leben hier noch etwa 5.800 Angehörige der südamerikanischen Urbevölkerung.
Der Konflikt um den Boden hier ist alt. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Guaraní-Kaiowá von Kolonisten ihres Landes beraubt und gewaltsam vertrieben. War es damals der Mate-Boom, sind es heute Zuckerrohr und Soja, welche das Gesicht der Landwirtschaft umformen. Hinter dem großflächigen umweltzerstörerischen Anbau zur Gewinnung von Kraftstoff und Futtermitteln für den Export stehen mächtige ökonomische und politische Interessen, denen die Guaraní-Kaiowá im Wege stehen. Hier im dünn besiedelten Hinterland herrschen das industriell betriebene Agrobusiness und der tiefste Rückschritt gleichermaßen. Großgrundbesitzer sehen die Indigenen als Menschen zweiter Klasse und sich als das Gesetz. Ihre Paramilitärs haben es auf Aktivisten der Landlosenbewegung und der Indigenen abgesehen. Immer wieder wird straflos gemordet. Seit Jahrzehnten kämpfen die Guaraní-Kaiowá, eingepfercht in Reservate unter elenden Lebensbedingungen, um ihre angestammten Gebiete. Die ihnen durch die Verfassung garantierten Rechte werden weiter missachtet. Die Demarkierung – die Neuvermessung und rechtliche Anerkennung indigener Gebiete – stagniert und wird durch die Agrarlobby massiv behindert. Trotz des Beitritts Brasiliens zur Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz indigener Völker wird ihr Lebensraum auch durch Großprojekte wie den Belo-Monte-Staudamm in Amazonien weiter reduziert, ihr Selbstbestimmungsrecht verletzt.
Die Beteiligung der Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) an der Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) paralysierte den Prozess der Demarkation. Die PMDB, ein Hort der Großgrundbesitzerkaste und der lokalen Eliten des Hinterlandes, der sogenannten Coronels, stellt nun mit Michel Temer provisorisch den Staatschef. Als Rousseffs Vize hatte dieser ihre Suspendierung durch das Parlament aktiv mit betrieben. Im Mai, kurz vor dem Antritt der Regierung Temer, der die Richtungsentscheidung der Präsidentschaftswahl von Oktober 2014 in ihr Gegenteil verkehrte, hatten Vertreter der Guaraní-Kaiowá in der Hauptstadt Brasília demonstriert, um Druck auf die Regierung auszuüben. Rousseff kämpft weiter um ihr Amt und ist nun ganz auf die Unterstützung der sozialen Bewegungen angewiesen. Nur einen Tag nach ihrem Sturz erschien im Amtsblatt der Republik ein Gutachten der für die Demarkationen indigener Territorien zuständigen Bundesbehörde Funai zum Territorium Dourados-Amambaipeguá. Es bekräftigt die Rechte der Guaraní-Kaiowá, die sie mit den Besetzungen einfordern wollen.
Die Antwort der Großgrundbesitzer und ihrer Pistoleiros ist eine Intensivierung des Terrors. Sie bauen auf ihren Einfluss in den Gemeinderäten und auf allen Ebenen des Staates. Dieser erschwert die Arbeit der Ermittlungsbehörden beträchtlich. Im Parlament in Brasília stellt das Agrobusiness eine der mächtigsten Interessengruppen. Diese Lobby möchte nun per Gesetz der „zu indigenenfreundlichen“ Funai die Zuständigkeit für die Demarkationen entziehen.
Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 21.06.2016, S.6, Link