Hat Rio de Janeiro wirklich einen Schutzpatron? Marcelo Crivella von der Republikanischen Partei, von der evangelikalen „Universalkirche des Königreichs Gottes“ zum Bischof gekürt, glaubt daran, demnächst die Geschicke der Metropole mit der Erlöserstatue zu lenken.
Umfragen des Instituts Datafolha sehen den Rechtspolitiker mit 46 Prozent der abzugebenden Stimmen am kommenden Sonntag in der Stichwahl um das Bürgermeisteramt weit vorn. Doch es könnte noch ein echter Krimi werden. Denn sein Kontrahent, der Historiker Marcelo Freixo von der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL), holt auf den letzten Metern vor der Ziellinie deutlich auf. Beide liefern sich im Wahlkampf einen harten Schlagabtausch.
Im ersten Durchgang vor vier Wochen hatte Freixo mit 18,4 Prozent überraschend den Einzug ins Finale erreicht. Freixo setzt sich seit Jahren besonders für die Lebensbedingungen und die Menschenrechte der Cariocas in den ärmeren Stadtteilen, den Favelas der Sechsmillionenstadt, ein und hat sich auch als Kolumnist der auflagenstärksten Tageszeitung Folha de S. Paulo einen Namen gemacht. Und Rios einflussreiche „Milícias“, paramilitärische Schutzgelderpresser und Drogenbanden mit Verbindungen zur Polizei und zu evangelikalen Kreisen, zu Feinden. Crivella vertritt den Bundesstaat Rio de Janeiro als Senator im brasilianischen Oberhaus, pflegt ein ganz traditionelles Familienbild und hält Darwins Lehre für einen Irrweg. Gewalt gegen Homosexuelle lehnt der Gottesmann ab. Er verspricht ein „Rio für alle“, mehr Einsatz für Kultur, Bildung und Sport. Für mehr Krippenplätze, Polizeistreifen, Straßenlaternen und Überwachungskameras will er auf Erden sorgen. Medienberichte, nach denen er sich bei seiner Wahlkampagne 2010 schwarzer Kassen bedient haben soll, bezeichnet er als Verleumdung.
Freixo sieht die Zeit für eine politische Wende in Rio gekommen. Eine „obskure, konservative, intolerante und kriminelle Regierung“ in den kommenden vier Jahren müsse verhindert werden. Auf seiner Abschlusskundgebung im Stadtzentrum vor 25.000 Teilnehmern forderte er zu einem intensiven Haus-zu-Haus-Wahlkampf auf und warb um die Stimmen des Drittels der Wählerschaft, das im ersten Durchgang leer oder ungültig wählte. In Brasilien herrscht für alle Personen bis zum 70. Lebensjahr Wahlpflicht. Mit einer Botschaft „Brief an die Cariocas“ versucht er zugleich, das aufgeklärte Bürgertum und fortschrittliche Unternehmerkreise zu erreichen. Er verspricht einen besseren öffentlichen Dienst und wirtschaftliches Wachstum. Den üblichen Postenschacher mit den Parteien soll es unter ihm nicht geben. Statt dessen sollen Fachleute, zu gleichen Teilen Frauen und Männer, an die Schaltstellen der Administration. Freixo zählt zu seinem Lager nun auch die Wähler der Arbeiterpartei (PT), die in Runde eins Jandira Feghali von der Kommunistischen Partei (PC do B) unterstützte. Crivella versammelt das ganze konservative und ultrarechte Spektrum hinter sich. Beide wollen die Nachfolge von Eduardo Paes antreten, welcher der PMDB von Präsident Michel Temer angehört. Unter ihm vertiefte sich die Ungleichheit in Rio weiter, die schöne Olympiafassade hatte Vorrang vor sozialer Frage und nachhaltiger Stadtentwicklung.
In der ersten Runde der landesweiten Kommunalwahlen am 2. Oktober hatte die Arbeiterpartei der vom Parlament abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff schwere Niederlagen hinnehmen müssen. Sie verlor landesweit 374 Rathäuser. Nur noch in 256 Kommunen konnten sich PT-Kandidaten auf Anhieb durchsetzen. Von den Hauptstädten der Bundesstaaten ging einzig Rio Branco in Acre an die Arbeiterpartei. Besonders bitter war der Ausgang in der größten Metropole, São Paulo, wo der religiöse TV-Moderator und Multimillionär João Doria von der konservativen PSDB – ein brasilianischer Berlusconi-Verschnitt – auf Anhieb siegte. Der Amtsinhaber und aufgehende Stern der PT Fernando Haddad wurde weit abgeschlagen. In sieben von 54 Großstädten mit mehr als 200.000 Einwohnern hat die PT nun noch die Chance, ihre Bilanz aufzubessern. Ein Rückschlag von historischem Ausmaß bleibt es in jedem Fall. Er spitzt die Krise in der größten Linkspartei auf dem Kontinent weiter zu, die im Laufe des parlamentarisch-justiziellen Putsches gegen Rousseff etwa ein Viertel ihrer Amtsträger durch Ausschluss oder Wechsel zu anderen Parteien verlor.
Die Einbußen der Partei an den Urnen gehen zu einem Teil auf die aggressive Kampagne der Konzernmedien gegen die Linkskräfte zurück. Lokale Koalitionen der PT blieben nach dem Bruch mit der PMDB zumeist auf ihre kleineren linken Alliierten beschränkt, was ihre Wahlchancen objektiv verringte. Die Verluste an Stimmen verdeutlichen aber auch das Scheitern eines politischen Projekts, das zwar mit Hilfe sozialer Programme vielen materiell einen Aufstieg ermöglichte, den politischen Analphabetismus aber nicht gleichermaßen bekämpfte. Mit dem Setzen auf Lösungen von oben wurde die eigene Basis demobilisiert. Die Partei wurde abgestraft für im Politikfilz verlorenes moralisches Prestige, für opportunistische Koalitionen mit rückschrittlichen Kräften, für die wirtschaftlichen Probleme des Landes, für das politische Chaos und für ein langes Zurückweichen vor der Offensive der Rechten. Bei der PT stehen die Zeichen nun auf Rückbesinnung auf programmatische Grundsätze und Veränderungen an ihrer Spitze. In den vergangenen Monaten suchte sie bereits wieder stärker den Schulterschluss mit sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften.
Hintergrund: PSOL
Die 2005 gegründete PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) ist eine radikal linke, antimperialistische Bürgerrechtspartei. Während der aktuellen politischen Krise Brasiliens hat sie beträchtlich an Bedeutung gewonnen. Bei den Kommunalwahlen am 2. Oktober konnte PSOL Bürgermeister und Stadträte hinzugewinnen. Außer in Rio de Janeiro, wo sie eine Koalition mit der kommunistischen Kleinpartei PCB unterhält, erreichte sie auch in Belém, der Hauptstadt des Bundesstaates Pará mit mehr als einer Million Einwohnern, die Stichwahl in einer Großkommune. Ihr Abgeordneter im Bundesparlament, Edmilson Rodrigues, konkurriert dort mit Zenaldo Coutinho von der konservativen PSDB um den Rathaussessel. Rodrigues kam von der Sozialistischen Volksaktion (APS), einer linken Strömung in der PT, zur PSOL. Die Arbeiterpartei hat nur noch in Recife in Pernambuco im Nordosten Brasiliens am Sonntag in einer Hauptstadt eines Bundesstaates einen ihrer Kandidaten im Rennen.
Ungeachtet ihrer Kritik an der PT, stellte sich die PSOL sofort eindeutig gegen den juristisch bemäntelten Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff. Die Partei möchte sich durch Integrität und einen basisdemokratischen Politikstil vom ideologisch flexiblen Wirrwarr und korrupten Praktiken der meisten anderen abgrenzen. Ihr jetziges Abschneiden sieht die PSOL selbst als „einen Sieg inmitten einer großen Niederlage“, da sich insgesamt die Rechte auf einem schnellen Vormarsch befinde.
Die Gründung der PSOL durch PT-Dissidenten und linke Intellektuelle war eine Folge der Flügelkämpfe als Reaktion auf die Regierungspraxis von Lula da Silva, von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens, und die damit verbundene politische Mäßigung der PT durch ihre Führung. Die PSOL sah darin eine „Preisgabe des Sozialismus als des strategischen Horizonts“. In der Verbindung von Sozialismus und Demokratie sieht sie ihre „Richtschnur zur Überwindung der kapitalistischen Ordnung“.
Auf der 22. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar 2017 in Berlin wird mit Jean Wyllys ein prominenter Vertreter der PSOL als Referent auftreten. Wyllys setzt sich im Parlament insbesondere gegen Diskriminierung und Gewalt gegen nicht heterosexuelle Menschen ein. Schlagzeilen machte er während der Abstimmung über die Einleitung des Impeachments gegen Rousseff am 11. Mai, als er den faschistischen Abgeordneten Jair Bolsonaro anspuckte, nachdem dieser dort der Militärdiktatur von 1964 bis ’85 und deren Folterknechten gehuldigt hatte.
Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 28.10.2016, S. 3, Link