Zum Inhalt springen

Flaute am Tejo

In der Sünderkartei der Europäischen Union steht die portugiesische Karte ganz vorn. Mit dem Spitzenwert von 6,2 Prozent Neuverschuldung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), hatte das iberische Land auch 2005 das Brüsseler Gängelband wieder einmal stark überdehnt. Auch für dieses Jahr wird ähnliches prognostiziert.

Wegen Verstoßes gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt leitete die Europäische Union, nach 2002 bereits zum zweiten Mal, ein Strafverfahren gegen die Lissaboner Administration ein. Im Maastrichter Vertrag von 1992 hatten sich die Mitgliedsstaaten zu sogenannten Konvergenzkriterien verpflichtet. Die jährliche Neuverschuldung sollte danach drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht überschreiten. Ausgeglichene Haushalte gegen Teilnahme an der Gemeinschaftswährung Euro, das war das politische Tauschgeschäft.

Der volkswirtschaftliche Hebel der Geldpresse sollte lahmgelegt werden. Geldpolitik und Zinshoheit wurden an die Europäische Zentralbank delegiert.

Defizit verfestigt

Nur bei schweren Wirtschaftskrisen sieht der Euro-Stabilitätspakt in der Frage der Neuverschuldung Ausnahmen vor – die längst die Regel bilden. Der Monetarismus der EU-Verträge kollidiert dabei immer auffälliger mit der Realität. Neben Portugal haben elf weitere Mitgliedsstaaten, darunter die ökonomischen und politischen Kernländer Deutschland und Frankreich, die rote Linie überschritten. Für Portugal stellte die Europäische Kommission fest, daß „das Defizit weder ausnahmsweise noch vorübergehend besteht“. Die Lissaboner Behörden wurden aufgefordert, „das gesamtstaatliche Defizit auf glaubhafte und nachhaltige Weise spätestens im Jahr 2008 auf unter drei Prozent des BIP zu senken“. Pikanterweise steht an der Spitze dieser Kommission mit José Manuel Barroso ein Mann, der von April 2002 bis Juli 2004 selbst Ministerpräsident Portugals war. Seine Politik folgte der Rezeptur des Euro-Stabilitätspaktes: Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben, Deregulierung des Arbeitsmarktes und Privatisierung von Staatsunternehmen. Als gescheiterter Krisenmanager entschwand er schließlich nach Brüssel.

Barroso war ein politischer Ziehsohn jenes Mannes, der mit den goldenen Jahren der portugiesischen Wirtschaft identifiziert wird. Unter Aníbal Cavaco Silva, 1985 bis 1995 Premierminister, flossen nach dem EU-Beitritt viele Milliarden aus dem Brüsseler Tropf an den Tejo. Der Mittelstand blühte auf, und der Konsum nahm zu, oft auf Pump. Das Geld aus den europäischen Strukturfonds sollte dazu dienen, Disparitäten zwischen den Regionen abzubauen und die EU wirtschaftlich und sozial zu harmonisieren. Viel davon blieb bei Straßen- und Prestigebauten, in der wenig effizienten Bürokratie hängen oder ging durch Subventionsbetrug verloren. Zudem wurden wichtige lokale Produzenten und damit verbundene regionale und lokale Wirtschaftskreisläufe, z. B. in Landwirtschaft und Fischerei, der europäischen Konkurrenz geopfert. Im Februar wählten die Portugiesen Cavaco Silva für das Versprechen, erneut für den Aufschwung zu sorgen, zu ihrem Staatspräsidenten.

Attraktiv war Portugal vor allem als Billiglohnland für die verarbeitende Industrie. Doch die Europa-Nachzügler aus dem Osten laufen ihm mittlerweile den Rang ab. Seit der Jahrtausendwende entwickelte sich die Wirtschaftskrise zum beherrschenden Thema in der portugiesischen Politik. Die Wachstumsraten sind niedrig, die Arbeitslosigkeit liegt offiziell auf einem Zehnjahreshoch von sieben Prozent. Die wirkliche Rate dürfte höher sein, viele Beschäftigungen sind prekär.

Krise der Politik

Einen „technologischen Schock“ wollte der seit Februar 2005 regierende sozialistische Premier José Sócrates den Portugiesen verordnen und versprach 150000 neue Arbeitsplätze. Nach der Wahl schockte er sie mit einer Mehrwertsteuererhöhung von 19 auf 21 Prozent, die Reformvorhaben wurden zurückgestellt. Die Privatisierung großer Staatskonzerne wie der Portugal Telecom steht bereits auf der Agenda.

Die Krise in Portugal wächst sich zu einer gesellschaftlichen aus. Während ein Waterloo der öffentlichen Finanzen beschworen und der Bevölkerung Opfer abverlangt werden, lebt die politische Klasse gar nicht schlecht vom Staat.

Die Opposition aus Kommunisten und Linksblock kritisiert die Unterwerfung unter den EU-Monetarismus und die damit erzwungenen Privatisierungen öffentlichen Eigentums. Schwere Mängel und Klassenschranken im Bildungssystem, insbesondere bei der nur rudimentär vorhandenen Berufsausbildung, sowie der technologische Rückschritt in vielen Bereichen seien die eigentlichen ökonomischen Hemmnisse.

Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2006/04-15/052.php

Kommentar verfassen