Kollektiv gegen Temer

In Amsterdam rauchten am Wochenende die Köpfe. Unter dem Dach des IIRE-Konferenzzentrums im wenig glamourösen, multikulturell geprägten Osten der nordholländischen Hafen- und niederländischen Hauptstadt war am Freitag abend das „Erste Internationale Treffen für die Demokratie und gegen den Putsch“ in Brasilien gestartet.

Das moderne, von einer linken Stiftung betriebene Institut ist ein profilierter Ort für Veranstaltungen, die soziale und politische Kämpfe zum Thema haben.

Das Treffen führte Gruppen zusammen, die sich im vergangenen Jahr an vielen Orten der Welt aus im Ausland lebenden Brasilianern und Sympathisanten gebildet hatten, um die Stimme gegen den in ihrem Herkunftsland laufenden kalten Putsch zu erheben. Abgesandte der „Kollektive“ kamen nun aus allen Himmelsrichtungen ins Tulpenland, um unter vielen Küssen und Umarmungen die Mitstreiter der vergangenen Monate aus der Nähe kennenzulernen und darüber zu beraten, wie sich die Kräfte für den weiteren Kampf bündeln lassen. Besonders zahlreich vertreten waren die Zusammenschlüsse aus Portugal, Italien, Spanien, Großbritannien und Deutschland sowie Schweden. Aktivisten aus Mexiko, Chile, Uruguay, Kanada und den USA wirkten online mit. Insgesamt brachte der Kongress 45 Gruppen aus 23 Ländern zum „Kollektiv der Kollektive“ zusammen, wie es stolz hieß. Er wurde damit zu einem bedeutenden Ereignis in der Geschichte dieser neuen Demokratiebewegung.

Mit der Absetzung der 2014 erneut gewählten Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) und der scharfen Rechtswende der Politik des Landes mit dem Konservativen Michel Temer an der Spitze hat Brasiliens Linke herbe Rückschläge zu verdauen. Darüber, was zu tun ist, damit sie wieder auf die Beine findet und dem sozialen Rollback Paroli bieten kann, bestehen unterschiedliche Vorstellungen, manche sind eher illusorisch. So ist mit einer „Selbstreparatur“ der Institutionen und der Rückkehr von Rousseff ins Amt eher nicht zur rechnen. Aus der Notwendigkeit, gegen den Vormarsch der Rechten eine breite Front zu bilden, erwächst jedoch die Bereitschaft der verschiedenen linken Strömungen zu mehr Einheit. Ein Prozess, der nicht frei von Konflikten sein kann. Auch als Folge der oft widersprüchlichen und konformistischen Politik der in die Defensive gedrängten PT.

thumbnail of 2017-01-31-03_Kollektiv gegen TemerIm Mittelpunkt der Konferenz standen Debatten über die politische Lage und der Austausch von Erfahrungen der verschiedenen Aktivistengruppen mit ihren Projekten. Vier Arbeitsgruppen diskutierten über inhaltliche Schwerpunkte auf den Gebieten des Rechts, der Kultur, der Kommunikation und der institutionellen Politik. Mehrfach angesprochen wurde die Schwierigkeit, gegen die Ignoranz der großen Medien auch außerhalb Brasiliens anzuarbeiten. Häufig wird dort nur wiedergegeben, was Nachrichtenagenturen liefern, oder ungefiltert die Sicht der oligarchisch gesteuerten Meinungsmacher Brasiliens übernommen. Auf den Podien der Veranstaltung saßen namhafte Intellektuelle wie der in São Paulo geborene Soziologe Emir Sader, einer der Organisatoren der Weltsozialforen von Porto Alegre. Sader traf den Nerv der Anwesenden, als er auf die zentrale Aufgabe der progressiven Brasilianer im Ausland verwies. Es gehe darum, die Welt darauf aufmerksam zu machen, dass im 200-Millionen-Einwohner-Staat nun eine „illegitime Regierung“ herrscht, welche die Souveränität des Landes untergrabe und einen Angriff auf fundamentale Rechte der Bevölkerung führe.

Die Schriftstellerin und Philosophin Márcia Tiburi setzte sich per Lifeschaltung aus Rio de Janeiro mit der neoliberalen Agenda der Temer-Equipe auseinander. Der Journalist Breno Altman ging in seinem Vortrag besonders auf die geopolitischen Aspekte und die hinter dem Umsturz stehenden wirtschaftlichen Interessen ein. Nach 15 Jahren Einflussverlust der USA in der Region habe ein neuer Zyklus imperialistischer Politik zur Sicherung von Profitraten begonnen. Das Verschwinden der Sowjetunion als Konterpart zu den kapitalistischen Zentren wirke weiter nach. Sein chilenischer Kollege Francisco Domínguez verglich die Situation im eigenen Land nach dem Pinochet-Putsch 1973 mit der Lage Brasiliens heute: Dort seien die Chancen für die demokratischen Kräfte weitaus günstiger. Redner und Versammelte betonten immer wieder ihre Solidarität mit Expräsident Lula da Silva (PT), gegen den rechte Richter auf Lügen gegründete Anklagen fabrizieren.

Den Auftakt zu dem Treffen in Amsterdam hatte am Freitag abend der Abgeordnete der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL), Jean Wyllys, gegeben. Er rief wie schon auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz von junge Welt am 14. Januar in Berlin zu einem solidarischen Umgang trotz ideologischer Differenzen und zum Dialog aller Linkskräfte auf. Wyllys verwies darauf, dass das Ausmaß und die Härte der Repression gegen die sozialen Bewegungen und die Opposition auf der Straße in seinem Land international viel zu wenig Beachtung fänden. Unter den fortschrittlichen Kräften Brasiliens gebe es heute einen breiten Konsens: „Weg mit Temer, diese Regierung muss fallen!“

Auf eine gemeinsame Abschlusserklärung konnten sich die Teilnehmer bei ihrem Treffen in Amsterdam nicht verständigen, angesichts vieler noch offener praktischer Fragen der Zusammenarbeit, deren Diskussion Zeit in Anspruch nahm. Wie Wellington Calasans, der das Stockholmer Kollektiv im Organisationskomitee vertritt, gegenüber jW betonte, soll mit einer breiten Diskussion in den Gruppen die politische Plattform noch weiter präzisiert werden. Klar sei jedoch, dass die Bewegung nicht unter dem Banner einer Partei laufe. Auf ihrer Fahne stehe die Verteidigung der Demokratie und von Expräsident Lula gegen seine Verfolger. Sie trete für die sozialen und politischen Rechte aller Brasilianer ein und gegen einen Ausverkauf des Petrobras-Konzerns und des brasilianischen Öls an das US-Kapital. Über Ort und Zeit eines Folgetreffens soll in den nächsten Wochen entschieden werden.

www.pelademocraciaecontraogolpe.org

Von Peter Steiniger, Amsterdam. Erschienen in: junge Welt vom 21.01.2017, S.3, Link

Demokratie verteidigen

Brasiliens durch ein politisch-juristisches Komplott abgesetzte Präsidentin ist auf Tour. Nach Spanien stand am vergangenen Freitag Italien auf dem Programm von Dilma Rousseff. Als Ehrengast wirkte sie als Rednerin an einem Seminar „Die Einsamkeit der Demokratie“ an der Universität von Salento in Lecce mit. Brasilien benötige „ein Bad der Demokratie“, sagte die 2014 gewählte Staatschefin. Ein solches sei nur mit dem Stimmzettel möglich. Sie glaube an die „Kraft des brasilianischen Volkes“, einen weiteren Staatsstreich 2018 zu verhindern. Dabei bezog sie sich auf juristische und politische Manöver, um eine Kandidatur von Expräsident Lula da Silva bei dann anstehenden Wahlen unmöglich zu machen. Die Demokratie zu verteidigen sei „die einzige Waffe gegen die Ungleichheit“. Der Regierung von Michel Temer warf sie vor, eine Politik des Ausschlusses zu praktizieren und die Zukunft des Landes aufs Spiel zu setzen. Mit ihrer Orientierung auf Kürzungen und die Schwächung des Staates habe sie „keinerlei Lösungen“ gegen die Krise zu bieten, sondern schade der Wirtschaft und zerstöre soziale Errungenschaften.

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Auf der richtigen Seite

Botschaft von Dilma Rousseff an die Teilnehmer des 1. Internationalen Treffens für die Demokratie und gegen den Putsch in Amsterdam vom 27. bis 29. Januar 2017:

Wegen Verpflichtungen, die ich bereits zuvor eingegangen war, ist es mir nicht möglich, bei Ihnen zu sein. Ich bedanke mich für die großmütige Einladung, die Sie mir gemacht haben, und würde gern bei einer der nächsten von Ihnen organisierten Veranstaltungen dabeisein.

Ich möchte Ihnen danken, im Namen aller Brasilianer, welche im Land gegen den Putsch kämpfen, der uns der Demokratie beraubt hat, für die wichtige Tätigkeit, die Sie entfaltet haben. Zweifellos ist diese ein außerordentlicher Kanal dafür geworden, den Putsch anzuprangern, und ein wesentlicher Beitrag, international eine Übereinstimmung über die Tatsache herzustellen, dass Brasilien eine illegitime Regierung besitzt. Mit einem Wort, Sie haben den Putsch gegen die Demokratie, gegen die Rechte unseres Volkes und gegen unsere Souveränität sichtbar gemacht.

Ich bin sicher, dass dieses Treffen Ihren Kampf weiter bereichern wird. Seien Sie versichert, dass dies unser Kampf ist, dass wir dabei zusammenstehen!

Vielen Dank Ihnen allen. Die Demokratie ist die richtige Seite der Geschichte.

Dilma Rousseff

Übersetzung: Peter Steiniger