Mögen die Spiele ohne sie beginnen: Die aufgrund eines politisch motivierten Amtsenthebungsverfahrens seit dem 12. Mai suspendierte brasilianische Staatschefin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) zeigt dem Internationalen Olympischen Komitee die kalte Schulter. Wie aus ihrem Umfeld kürzlich verlautete, wird Rousseff eine Einladung des IOC, die Eröffnungszeremonie der Sommerspiele am 5. August im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro zu verfolgen, ausschlagen.
Angesichts des protokollarischen Dilemmas, die sich aus Brasiliens Staatskrise ergibt, sollte Rousseff bei den Expräsidenten Lula da Silva, Fernando Collor und José Sarney Platz nehmen. In ihre erste Amtszeit fiel der Hauptteil der Vorbereitungen auf das sportliche Großereignis, das ihr populärer Vorgänger Lula für Brasilien eingeworben hatte. Vor wenigen Monaten hatte Rousseff, im Oktober 2014 wiedergewählt, noch erklärt, sich als „Mutter der Olympiade“ zu fühlen. Aufgrund der guten Planung ihrer Regierung sei Brasilien nun bereit für die Spiele.
Verwaisen werden sie allerdings nicht, denn mittlerweile gibt es einen „bösen Stiefvater“. Rousseffs illoyaler Stellvertreter, Interimspräsident Michel Temer, soll den Ehrenplatz neben IOC-Präsident Thomas Bach einnehmen. Sollte Rousseff tatsächlich fernbleiben, dürfte das nur zum Teil der vorgezogenen Degradierung zu einer gewesenen Präsidentin geschuldet sein. Das Szenario stellt auch die internationale Politik vor Probleme. Bei der Eröffnung der Spiele werden sich etliche Staatschefs, darunter US-Präsident Barack Obama, von Ministern vertreten lassen.
Für Temer könnte der Ehrenplatz zum heißen Stuhl werden. Auch wenn sich die konservativen Leitmedien bemühen, seine nicht vorhandene Popularität künstlich hochzuschreiben, könnte ihm der allgemeine Unmut über die korrupten politischen Eliten und die anhaltende Wirtschaftsmisere deutlich entgegenschlagen. Rousseff hat diese Erfahrung bereits vor und während der Fußball-WM 2014 gemacht. Eine Mehrheit der Bevölkerung steht den Spielen mittlerweile ablehnend oder desinteressiert gegenüber, wie Umfragen zeigen. Wird der Testlauf für Temer im Stadion, trotz vieler bessergestellter und ausländischer Besucher, bereits heikel, dürfte es erst recht auf den Straßen zu heftigen Protesten gegen ihn und den rechten Putsch im Parlament kommen.
Das enorme Sicherheitsaufgebot, welche das Schauspiel von einer heilen olympischen Welt abschirmen wird, hat ebenso eine Doppelfunktion wie die kilometerlangen farbenfrohen Sichtbarrieren vor den riesigen Elendsquartieren, den Favelas von Rio de Janeiro. Etwa 85.000 Bewaffnete, neben Polizisten wird auch das Militär herangezogen, sollen für einen reibungslosen Ablauf sorgen, die Terrorgefahr bannen und Gewalterfahrungen aus dem brasilianischen Alltag von Touristen fernhalten. Gleichzeitig bildet es eine Drohkulisse gegen die sozialen Bewegungen, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Staatsstreich anprangern werden. Dessen Finale wird erst nach den Spielen mit einer Abstimmung im Senat über das „Impeachment“ gegen Dilma Rousseff stattfinden.
Berichten der Konzernmedien, nach denen Rousseff bereits „das Handtuch geworfen“ habe, selbst nicht mehr an eine mögliche Rückkehr ins Amt glaube und nur noch ihre „politische Biographie“ verteidige, trat die Präsidentin am Sonntag mit einer Erklärung entgegen, in der sie einen Amtsverzicht vehement ausschließt. Unter dem Titel „Der Widerstand gegen den Putsch wird fortgesetzt“, betont sie, dass ihre Kampagne mit Auftritten im ganzen Land und „mittels des konstruktiven politischen Dialogs mit dem Senat“ weitergehe. Anhörungen von Experten und Prüfungen der Justiz ergaben, dass Rousseff vorgeworfene Haushaltsmanipulationen nicht als krimineller Machtmissbrauch einzustufen sind. Die Vorwürfe dienen allerdings ohnehin nur als technischer Hebel eines politisch motivierten Umsturzes.
Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 26.07.2016, S.6, Link