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Dilmas Dilemma

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT hat eigentlich schon genug Sorgen. Nun kommt eine Art Luxusproblem hinzu. Sechs von sieben Ministern aus dem rechtsliberalen Sammelbecken Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB), die als größter Partner gerade mit viel Tamtam die Koalition aufkündigte, wollen an ihren Ämtern festhalten.

Parteichef Michel Temer, als Vizepräsident des Landes wenig beschäftigt, möchte mit dem historischen Bruch die Chancen eines im Parlament eingeleiteten Amtsenthebungsverfahrens gegen Rousseff steigern. Als Vorwand für dieses dienen angebliche Haushaltstricks bei der Finanzierung von Sozialprogrammen, die Jahre zurückliegen und vom Kongress selbst nicht moniert worden waren. Temer würde im Falle einer Suspendierung der Staatschefin ihren Platz einnehmen.

Die sechs Minister, die dem Aufruf, sich aus dem Kabinett zurückzuziehen, nicht Folge leisteten, hatten vor Bekanntgabe ihrer Absichten ein Stelldichein mit ihrem Parteifreund, dem Senatspräsidenten Renan Calheiros. Dieser kritisiert das Verfahren gegen Rousseff. In der Regierung und „an der Seite Brasiliens“ werde man der Krise begegnen, hatte Landwirtschaftsministerin Kátia Abreu danach erklärt. Ob Rousseff die sechs an ihrer Seite belässt, oder sie wie etliche von Temer installierte Leute im Staatsapparat jetzt in die Wüste schickt, um die Posten anderen Alliierten anbieten zu können, wird sich schnell zeigen. Auch fliegende Parteiwechsel gelten nicht als unschicklich.

Im Präsidialsystem Brasiliens sind die Hürden für eine Absetzung der Staatschefin hoch. Zunächst wäre eine Zweidrittelmehrheit im Kongress mit seinen 513 Abgeordneten aus 23 Parteien und diversen Lobbygruppen erforderlich, anschließend müsste noch der Senat als Oberhaus entscheiden.

Der Seitenwechsel erfolgte genau ein Jahr nach einer Erklärung Temers, dass ein solches Impeachment „undenkbar“ sei und eine Verfassungskrise auslösen würde. „Es gibt dafür weder eine juristische noch eine politische Grundlage“, hieß es damals. An der Spitze des mittlerweile dazu eingerichteten Sonderausschusses steht mit Parlamentspräsident Eduardo Cunha ein weiterer PMDB-Mann. Cunha steht auch für fette Schlagzeilen wegen Millionen aus dunklen Quellen auf Schweizer Bankkonten sowie Vorwürfen, die Arbeit der Justiz massiv zu behindern. Das macht ihn nicht einsam: Mehr als die Hälfte der 66 Mitglieder des Ausschusses ist in Korruptionsfälle verwickelt. Umso lauter stimmt die PMDB-Führung nun den „Weg mit Dilma, weg mit der PT“-Losungen auf Demonstrationen gegen die Regierung zu. Das Ausscheiden der PMDB aus der Koalition macht es dieser leichter, eine fortschrittliche Agenda zu verfolgen.

Zum Druck der Straße kommt ein Komplott von Teilen der Justiz, Wirtschaftskapitänen und konservativen Politikern zur Destabilisierung der Regierung. Rousseff und der von ihr zum Kabinettschef berufene Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva sehen sich geheimpolizeilichen Methoden und Durchstechereien von Ermittlern an die Presse ausgesetzt, die sie in ein kriminelles Licht tauchen und das politische Klima weiter vergiften. Die Übernahme des Amtes durch Lula blockierte ein Richter erst einmal. Der populärste Linkspolitiker soll die Regierung aus der Krise lotsen. Der Ankurbelung der Wirtschaft und sozialen Fragen soll wieder stärker Beachtung geschenkt werden. Er ist der Hoffnungsträger des linken Lagers für die nächste Präsidentschaftswahl 2018. Übergangsweise wirkt Lula als Sonderberater der Präsidentin und sammelt Unterstützer zur Verhinderung ihres Sturzes. Die in den Präsidentschaftswahlen 2014 unterlegene Opposition und mit ihr verbündete Medien, insbesondere die Globo-Gruppe, werden nachlegen müssen, wollen sie die Machtfrage vorher klären.

Das verdeutlichte auch der Aktionstag zur Verteidigung der Demokratie am Donnerstag. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage gingen landesweit Hunderttausende auf die Straße, um Dilma und Lula den Rücken zu stärken und ihre sozialen Rechte zu verteidigen. Mit Hunderten Bussen waren Demonstranten in die Hauptstadt Brasília im Zentrum des Landes gekommen, um sich vor dem Parlament zu versammeln. „Es wird keinen Putsch geben!“, „Dilma bleibt!“, „Weg mit Cunha!“ waren die Losungen des Tages. Solidaritätskundgebungen wurden auch an vielen Orten im Ausland abgehalten, darunter Lissabon, Paris, London und Barcelona. Auch vor dem Brandenburger Tor in Berlin gab es Samba und Parolen gegen einen Staatsstreich und die Globo-Medien.

Im Präsidentenpalast Planalto empfing am selben Tag Präsidentin Rousseff politisch engagierte Künstler und Intellektuelle. Die Versuche, sie aus dem Amt zu drängen, bezeichnete sie als Staatsstreich, dem ein „demokratischer Anstrich“ gegeben werden solle.

Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 02.04.2016, S. 6, Link

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