Um den Horror zu vermeiden, reichen drei Bretter und ein paar Nägel. Und doch ereignet er sich immer wieder auf den Wasserstraßen von Pará, einem brasilianischen Bundesstaat im Amazonasgebiet. Schuld daran sind nicht die zahlreichen Alligatoren, Schlangen oder Piranhas. Der Horror ist menschengemacht. Regelmäßig kommt es zu Unfällen mit Bootsmotoren, deren Opfer regelrecht skalpiert werden. Etwa 80 Prozent davon sind Frauen und Mädchen.
Die Gefahr fährt mit
Seit den 1960er Jahren ist in dieser Region ein Bootstyp gebräuchlich, bei dem der Motor mittig angebracht ist. Die Antriebswelle der Schraube verläuft mitten durch das Bootsinnere und liegt völlig offen. Gerät ein Insasse zu nah an das rotierende Metall, greift dieses unerbittlich zu. Durch Feuchtigkeit und magnetische Aufladung werden gerade Kleidungsstoff oder Haare angezogen. Die Folge kann ein Unfall sein, bei welchem dem Opfer in Sekundenschnelle Haare samt Kopfhaut abgerissen werden. Die Verstümmelung kann auch Teile der Gesichtshaut oder die Ohren betreffen. Die Verletzungen enden in manchen Fällen tödlich, immer aber mit einem körperlichen wie seelischen Trauma.

Mehr als 25000 solcher „Killerboote“ sind in Pará sowie im angrenzenden Amapá unterwegs. Die kleinen Kähne sind für die Bewohner im Hinterland das gebräuchliche Verkehrsmittel. Die hier ansässigen Caboclos, Nachfahren von Mischlingen aus Portugiesen und Indigenen, sind mit den Flüssen eng verbunden. Ihre Hütten sind oft auf Pfählen an deren Ufern errichtet. Die Lebensbedingungen sind dürftig, doch Politik und Gesellschaft nehmen davon seit jeher wenig Notiz. Obwohl allein die Insel Marajó im Mündungsdelta des Amazonas die Größe der Schweiz hat. Die meisten Caboclas tragen ihr Haar lang und offen. Auch die Ausbreitung evangelikaler Sekten, die auch vor entlegensten Regionen nicht Halt macht, hat diese Haarmode befördert. Daher sind vor allem Frauen die Opfer der heimtückischen Bootskonstruktion. Seit 1982 wurden 250 Fälle gezählt, doch die Gesundheitsbehörden vermuten eine hohe Dunkelziffer, weil die Verunglückten oft aus dem familiären Umfeld der Bootsführer stammen.
Mit dem Unfall beginnt für die Opfer ein lebenslanger Leidensweg. Die medizinische Behandlung kann sich über Jahre erstrecken. Zahlreiche Eigenhauttransplantationen und plastisch chirurgische Eingriffe sind notwendig. Ein Risiko von Infektionen und Entzündungen bleibt immer bestehen. Die Patienten leben mit ständigen Kopfschmerzen, einige haben den Verlust des Hör- oder Sehvermögens zu ertragen. Spezialisiert auf diese Versehrten hat sich die Stiftung Santa Casa de Misericórdia in Belém, der Hauptstadt von Pará. Einen hohen Stellenwert hat dabei die seelische Betreuung.
Öffentlichkeit wacht auf
Außerhalb der Santa Casa ist die Rückkehr in ein normales Leben wegen körperlicher Entstellungen doppelt so schwer. Da die heißen Temperaturen das Tragen von Perücken zu einer Qual machen, wickeln sich viele Betroffene Tücher um den Kopf. Vor allem jugendliche „Turbanfrauen“ haben mit Vorurteilen zu kämpfen und sind Anfeindungen als „Monster“ ausgesetzt.
Seit 2007 regiert mit Ana Júlia Carepa von der Arbeiterpartei (PT) erstmals eine Frau als Gouverneurin von Pará. Die Exbürgermeisterin von Belém will endlich Schluß machen mit dem grausigen Phänomen, und setzte eine staatliche Kommission (CEEAE) ein. Nach einem Bericht in der Zeitschrift Carta Capital haben nun auch die großen Medien das Thema aufgegriffen. Behörden, Kirchen und diverse Gruppen wirken bei der Aufklärung der Bevölkerung mit. Den Führern von Booten mit offener Antriebswelle drohen harte Strafen oder die Beschlagnahme des Fahrzeugs. Doch Unwissenheit und Fatalismus sind wie ein starker, träger Fluß. Wenig Nachfrage findet bislang ein kostenloses Sicherheitskit: bestehend aus drei Holzelementen und ein paar Nägeln.
Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 15.01.2010, S.15, Link