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„Die Ärmsten der Armen“

Carola von Braun ist Sprecherin der Überparteilichen Fraueninitiative Berlin – Stadt der Frauen. Die damalige Landes- und Fraktionsvorsitzende der Berliner FDP war 1992 Mitbegründerin des frauenpolitischen Bündnisses
Warum wendet sich Ihre Initiative in jüngster Zeit verstärkt der Situation wohnungsloser Frauen in der Stadt zu?

Die Fraueninitiative Berlin ist ein politisches Netzwerk quer durch die demokratischen Parteien. Wir konzentrieren uns auf solche frauenrelevanten Themen, die nach unserer Auffassung im parlamentarischen Betrieb zwischen Regierung und Opposition regelmäßig zu kurz kommen. Wir haben uns sehr stark mit den Problemen von Arbeitslosigkeit, den Auswirkungen der Hartz-IV-Reformen beschäftigt und so einen Blick darauf, was sich an Verwerfungen in unserer Gesellschaft leider verschärft. Uns fiel auf, daß die weibliche Obdachlosigkeit sichtbar zunimmt. Deshalb sind wir von uns aus auf Projekte für Frauen, wie Wohnheime und Notübernachtungen, zugegangen.

Welche Erkenntnisse zu weiblicher Wohnungslosigkeit konnten Sie dabei mitnehmen?

Das Bedrückende ist, das haben wir dabei gelernt, daß Frauen ihre Lage kaschieren, solange sie dazu noch über einen Hauch von Kraft verfügen. Sie versuchen, sich zu pflegen, im öffentlichen Bild nicht aufzufallen. Auch deshalb wurde dieses Problem lange Zeit unterschätzt. Fast 90 Prozent der Frauen, von denen wir hier reden, zählen zu den Ärmsten der Armen. Die meisten haben schwere Gewalterfahrungen hinter sich und weigern sich strikt, in gemischt-geschlechtliche Obdachlosenunterkünfte zu gehen. Berlin hat jedoch zu wenig Einrichtungen spe­ziell für Frauen, so daß die Zahl derer, die aus Mangel an Betten abgewiesen werden, ständig zunimmt.

Welches Ausmaß haben die Folgen von Ängsten und Streß für die psychische Gesundheit der Frauen? Wie sind die sozialen Einrichtungen darauf eingestellt?

Fast alle Betroffenen haben schwere und meist unbehandelte psychische Erkrankungen. Ansehen sieht man es nur denen, die schon ganz am Ende sind. Alle diese Frauen haben den Wunsch, wieder ein selbständiges Leben führen zu können. Auf dem Weg dahin brauchen die meisten Therapien. Zunächst müssen sie überhaupt erst wieder Vertrauen in andere entwickeln können. Deshalb ist es so wichtig, daß auch direkt in diesen Einrichtungen psychologische und psychiatrische Betreuung vorhanden ist. Das ist leider nicht die Regel.

Frauen finden besonders schwer den Weg ins Hilfesystem. Was steht ihnen im Weg?

Ein Grundproblem ist, daß Frauen diesbezüglich viel zurückhaltender als Männer sind. Wenn Frauen sich nicht trauen, zu den Behörden oder sozialen Einrichtungen zu gehen, können diese sich auch nur schwer auf ihr speziellen Probleme einstellen. Das ist kein schuldhaftes Verhalten irgendeiner Seite. Frauen stützen sich zunächst mal aufs private Umfeld, sogar dann, wenn sie Gewalt erfahren. Ein großer Teil dieser Klientel ist gar nicht in der Lage, den ganzen Mechanismus zu bewältigen, bis man alles das bekommt, was unser Sozialstaat an Hilfen bietet.

Schon in Dokumenten des Berliner Senats aus dem Jahr 1998 wurden solche Phänomene und Defizite beschrieben. An der Situation scheint sich nicht viel geändert zu haben?

Auch wir haben mit Erstaunen gelernt, daß die Politik eigentlich schon mal recht weit war. Das ist dann aber in den politischen Turbulenzen untergegangen. Berlin tut quantitativ viel im Bereich der Obdachlosen. Die spezifischen Probleme der Frauen sind da vielleicht ein wenig aus dem Blickfeld geraten. Wir sind froh, daß wir über unser Netzwerk erreichen konnten, daß es im März hierzu eine Anhörung im Berliner Abgeordnetenhaus gab. Wir haben den Eindruck, daß alle Fraktionen und auch der Senat problembewußt sind. Zur Zeit laufen Gespräche zwischen Senat und Trägern der Einrichtungen für Frauen – nach dem, was wir hören, positiv. Jetzt muß man sehen, welche Verbesserungen im Rahmen des knappen Berliner Haushaltes erreichbar sind.

Interview: Peter Steiniger. Veröffentlicht in: Tageszeitung junge Welt, 17.07.2012, Nr. 164, S.3, https://www.jungewelt.de/2012/07-17/002.php

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