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Der Markt macht’s

Baustelle geschlossen. So sieht es die Bundesregierung, wenn es um die vieldiskutierte EU-Dienstleistungsrichtlinie geht, die Mitte November endgültig das EU-Parlament passieren soll. In dieser Woche befaßte sich der Wirtschaftsausschuß des deutschen Bundestages in einer öffentlichen Anhörung mit der Direktive.
Die Dienstleistungsfreiheit steht ganz oben auf der Agenda der europäi­schen Gesetzgeber. Sie bildet ein Kernstück der im März 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie. Innerhalb von nur einem Jahrzehnt soll Europa zum großen Sprung ansetzen: Der Staatenbund müsse zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ werden, so die ambitionierte Zielstellung der Europäischen Kommission. Dazu sei die „Schaffung eines realen europäi­schen Binnenmarkts für Dienstleistungen durch die Beseitigung rechtlicher und administrativer Hindernisse“ notwendig. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen würden bisher von zahlreichen bürokratischen Beschränkungen daran gehindert, „über ihre nationalen Grenzen hinauszuwachsen und uneingeschränkt Nutzen aus dem Binnenmarkt zu ziehen“.

Vorspann

Der ursprüngliche Vorschlag des ehemaligen EU-Binnenmarktkommissars Frits Bolkestein aus dem Jahr 2004 sah eine brutale Liberalisierung fast aller entgeltlichen – privaten wie öffentlichen – Dienstleistungen vor: vom Handwerk, über Gesundheit und Verkehr bis zum Kinderheim. Besonders brisant war am „Bolkestein-Hammer“, so die Kritiker, das „Herkunftslandsprinzip“. Der Erbringer von Dienstleistungen sollte nur noch den Gesetzen des Landes unterliegen, in dem er niedergelassen ist. Eine Einladung zur Umgehung von Standards im Arbeits- und Tarifrecht, bei Verbraucherschutz und Steuern.

Doch die neoliberale Entführung Europas mißlang: Eine Bewegung von Richtlinienkritikern aus Gewerkschaften, Parteien und von Globalisierungsgegnern mobilisierte europaweit die Öffentlichkeit gegen das Bolkestein-Projekt.

Am 16. Februar 2006 einigten sich konservative und sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament schließlich auf ein Kompromißpaket, das öffentliche Dienstleistungen weitgehend von der Richtlinie ausnimmt. Das Herkunftslandsprinzip wurde abgeschwächt und verklausuliert. Am 29.Mai einigte sich der Rat der Europäischen Union, das wichtigste Entscheidungsorgan, auf einen „Gemeinsamen Standpunkt“, mit dem nun der Schlußstrich unter die Debatte gesetzt werden soll. Der Kompromiß zur Ausklammerung des Tarif- und Streikrechts aus der Direktive sowie von Bestimmungen zum Strafrecht wurden hierbei wieder aufgeweicht.

Akut: Mindestlohn

Vorteile bringe der Freihandel vor allem für Betriebe mit einer starken Produktspezialisierung, schätzte Dr. Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung auf der Anhörung im Bundestag ein. Für die Vertreter von Industrie- und Handelskammer, Deutschem Landkreistag und Handwerksverband überwiegt das Positive. Bürokratie werde abgebaut, der Wettbewerb fairer gestaltet und Existenzgründungen würden erleichtert. Das biete große Chancen für die leistungsfähigen deutschen Unternehmen. Offen blieb, wie Qualitäts- und Sozialstandards in der Praxis wirkungsvoll kontrolliert und durchgesetzt werden sollen.

Die SPD-Fraktion trieb wohl die Sorge um, mit ihrem ja zum Entwurf des Rats künftig für neue „Unterschichten“ in ganz Europa mit verantwortlich gemacht zu werden. „Fegt die Richtlinie die Europäische Sozialcharta vom Tisch?“ fragte eine Abgeordnete.

Bundestagsmitglied Martin Zeil (FDP) machte den Stichwortgeber für Freihandelsgeist Christoph von Knobelsdorff von der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, ASU. Die ursprünglichen optimistischen Schätzungen, so von Knobelsdorff, daß hierzulande hunderttausend neue Arbeitsplätze entstehen würden, müßten deutlich nach unten korrigiert werden. Schuld sei die Aushöhlung des Herkunftslandsprinzips, dem „Schlüssel zur Vollendung des Binnenmarktes“. Die Intention der Richtlinie habe sich ins Gegenteil verkehrt. „Dienstleistungen in sozial sensiblen Bereichen, was soll das sein?“ gab er sich ahnungslos.

Hier kennen sich die Gewerkschaftsvertreter aus. Sie fordern, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, alle Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen sowie die sozialen Dienste– ohne Hintertüren – von der Richtlinie auszunehmen. Für DGB-Vize Annelie Buntenbach folgt diese einer Logik der Deregulierung, mit negativen Folgen für die Beschäftigungsstruktur. Deshalb brauche Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn und Entsendegesetze in allen betroffenen Branchen, also Mindesttarife für in Deutschland tätige ausländische Firmen.

Ulla Lötzer von der Linksfraktion rechnet trotz des langen Ringens um die EU-Dienstleistungsrichtlinie weiterhin mit Sozial- und Lohndumping. „Unsere Initiativen zum Schutz der Daseinsvorsorge vor weiteren Privatisierungen kommen jetzt erst recht auf die Tagesordnung.“

Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2006/10-19/040.php

Dokumentiert: Vieles bleibt offen

Gesundheit: Keine klare Grenze

„Der Ausschluß des Gesundheitswesens vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie sollte Gesundheits- und pharmazeutische Dienstleistungen umfassen (…), wenn diese Tätigkeiten in dem Mitgliedsstaat, in dem die Dienstleistungen erbracht werden, einem reglementierten Gesundheitsberuf vorbehalten sind.“Bildung: Von Fall zu Fall

„(…) die Frage, ob bestimmte Tätigkeiten – insbesondere Tätigkeiten, die mit öffentlichen Mitteln finanziert oder durch öffentliche Einrichtungen erbracht werden – eine ›Dienstleistung‹ darstellen, [muß] von Fall zu Fall im Lichte sämtlicher Merkmale, (…), beurteilt werden.“Strafrecht: Eingeschränkt

„Diese Richtlinie berührt nicht das Strafrecht der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch nicht unter Umgehung der Vorschriften dieser Richtlinie die Dienstleistungsfreiheit dadurch einschränken, daß sie Strafrechtsbestimmungen anwenden, die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen.“Kommission: Generalvollmacht

Es wird festgeschrieben, daß alle Anstrengungen und Auseinandersetzungen nur vorläufig waren, und die Kommission verleiht sich eine Generalvollmacht:

„Die Kommission legt dem Europäischen Parlament und dem Rat bis zum …* und danach alle drei Jahre einen umfassenden Bericht über die Anwendung dieser Richtlinie vor. (…) Er enthält gegebenenfalls Vorschläge für die Anpassung dieser Richtlinie im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen.“

* Fünf Jahre nach Inkrafttreten dieser Richtlinie

Von Peter Steiniger. Quelle: Gemeinsamer Standpunkt des Rates, veröffentlicht am 24. Juli 2006 (Ratsdok. 10003/4/06)

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