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Das Wir entscheidet

Die moderne Volksdroge Fußball versagt ausgerechnet am Zuckerhut – und die Welt staunt nicht schlecht. Statt vor den heimischen Glotzen in der Favela mitzufiebern oder beim Public Viewing an der Copa Cabana Samba zu feiern, wenn Neymar gegnerische Verteidiger wie Slalomstangen aussehen läßt, versammeln sich immer mehr Brasilianer noch lieber auf Straßen und Plätzen – um sich in die Politik einzumischen.

Daraus spricht Leidensdruck wie auch ein neues Selbstbewußtsein als Staatsbürger. Nun machten sich schon mehr als eine Million Menschen leidenschaftlich auf die Socken, um die sogenannte politische Klasse unter Druck zu setzen. Ein Tor ist bereits gefallen: Fahrpreiserhöhungen für Bus und Bahn, die die Initialzündung zu den Protesten waren, mußten zurückgenommen werden. Politiker sahen sich sogar soweit in die Defensive gedrängt, daß Preise gesenkt wurden. Das Wir hat diesmal entschieden. Eine solche Fahrgastbewegung stelle man sich nur mal hierzulande vor.

Dritte-Welt-Alltag neben Erste- Welt-Stadien: Trotz Wachstum, mehr Kaufkraft, Fortschritte bei der Armutsbekämpfung – Brasilien ist immer noch eines der ungerechtesten und korruptesten Länder, polizeiliche Willkür und sozialen Rassismus inklusive. Die Menschen wollen das Land aus den Sonntagsreden der Politiker mal mit eigenen Augen sehen.

Endlich: Die Empörten empören sich. Dieses Phänomen verwirrte Fußballidol Pele so sehr, daß er sich ein blitzsauberes Eigentor in die Maschen setzte. Die Leute sollten lieber die Nationalelf anfeuern als der res publica Dampf machen, fabulierte er. Niemand jubelte und Pele wollte dann doch lieber auf der richtigen Seite mitspielen. „Ich stehe zu hundert Prozent hinter der Bewegung für Gerechtigkeit in Brasilien “. Andere, welche die Spielregeln der Politik und der Medien besser beherrschen, schließen ebenfalls auf. Nach dem bekannten Motto: Wenn du sie nicht schlagen kannst, dann schließe dich ihnen an. Selbst die marktbeherrschende Mediengruppe Rede Globo, treuer Amigo von Kapital und Kaziken, sowie Politiker aller Parteien entdeckten ihr Herz für die Anliegen der Straße. Gegen friedliche Spaziergänge an der frischen Luft ist schließlich nichts zu sagen, solange der Verkehr nicht übermäßig behindert, das Geschäft nicht gestört und der Polizei auch die linke Wange hingehalten wird. Zuckerbrot und Peitsche.

Die Rechte und ihre Schreiberlinge wollen den Unmut gegen die in Brasília regierende PT wenden. Es ist die soziale Basis der Progressiven selbst, die ein funktionierendes, gerechteres Gemeinwesen einfordert. Eine direktdemokratische Ein-Punkt-Bewegung war Auslöser einer beeindruckenden politischen Mobilisierung, wie sie klassische Parteien nicht leisten können und wollen.

Am Zuckerhut gibt es Größeres zu feiern als Erfolge der Seleção Brasileira: Das Volk selbst hat die politische Arena betreten. Es geht um mehr als um Krümel vom Kuchen, es geht um den Zustand der ganzen Bäckerei.

Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 22.06.2013, Nr.142, S.8, Link

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