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Fundamentaler Einbruch

Für ein Wunder hat es in Rio de Janeiro nicht gereicht. Obwohl dort mehr als eine Million Stimmen auf den Kandidaten der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) entfielen, hatte sein rechter Kontrahent am Sonntag deutlich die Nase vorn. Mit 40,6 Prozent der gültigen Voten konnte Marcelo Freixo sein Ziel, in der zweitgrößten Stadt Brasiliens eine politische Wende herbeizuführen, nicht erreichen. 

An der Spitze ihrer Verwaltung steht künftig Marcelo Crivella von der Republikanischen Partei (PRB), einer Vorfeldorganisation der evangelikalen „Universalkirche des Königreichs Gottes“, für die er auch als Bischof predigt und deren Exportgeschäft nach Afrika er besorgte. Senator und Gospelsänger Crivella fand für seine Botschaft auch bei Menschen aus den ärmeren Schichten Abnehmer. Jeder fünfte Urnengänger am Zuckerhut allerdings wählte ungültig oder leer. Ein Indiz dafür, dass viele Cariocas dem politischen Spiel insgesamt gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen.

Den Startvorteil Crivellas konnte Freixo trotz eines intensiven Straßenwahlkampfes letztlich nicht ausgleichen. Mit 18,4 Prozent war dem Historiker und Menschenrechtsaktivist von der noch jungen, aufstrebenden PSOL vor vier Wochen der Einzug in die Stichwahl gegen den weit vorn liegenden Crivella geglückt. Ganze elf Sekunden Sendezeit in Fernsehen und Radio hatten Freixo bis dahin für seine Kampagne zugestanden. PRB und Universalkirche haben da eine ganz andere Reichweite. Sie sind eng mit dem Radio- und TV-Imperium Rede Record verbunden. Dessen Eigentümer ist Crivellas Onkel, der Sektenführer Edir Macedo, der es von der Aushilfe am Tresen über den Lotterieverkäufer bis zum spirituellen Großunternehmer gebracht hat. Seine Rede-Medien berieseln die Massen mit seichter Unterhaltung und sind im Ablasshandel tätig. Das Geschäft mit dem Glauben bringt Milliarden ein. Die Pfingstkirchen sind längst auch politisch auf dem Siegeszug.

Der Aufstieg der Evangelikalen verdankt sich nicht nur Kohle und Charisma. Die Verantwortung dafür könne man, schreibt die Journalistin Cynara Menezes in ihrem Blog „Socialista Morena“, der Arbeiterpartei PT selbst und auch ihrer größten konservativen Rivalin, der PSDB, „nicht von der Schulter nehmen“. Im Kampf um die Macht hätten beide, „anstatt Distanz zum religiösen Fundamentalismus zu zeigen“, bei allen zurückliegenden Wahlen um den Beistand der Evangelikalen und deren Führer gebuhlt. Crivella und seine PRB sind dafür der beste Beweis. Die Partei wurde von der PT in Koalitionen eingebunden, für den Prediger gab es bis zum März 2014 den passenden Ministerposten: den für Fischerei. Jetzt zählt die PRB zu den Stützen der Temer-Regierung. Und Crivella konnte im Finale von Rio auf die Hilfe der PSDB zählen.

Ist das Abschneiden von Freixo immerhin achtbar, so ist das der Linkskräfte insgesamt auch in der zweiten Wahlrunde der landesweiten Kommunalwahlen mau. Rot ist wieder rar geworden auf der politischen Landkarte Brasiliens. Dazu herrscht Frauenmangel wie in einem Emirat: Unter den 114 Kandidaten in 57 Kommunen befanden sich lediglich sechs Frauen. Für die PT der um ihr Amt gebrachten Präsidentin Dilma Rousseff setzte sich der Niedergang fort. Keiner ihrer Bewerber in den sieben Großstädten, wo sie es in die Stichwahl geschafft hatte, konnte sich durchsetzen. Die Zahl der von ihr geführten Rathäuser reduzierte sich unter dem Strich auf weniger als die Hälfte. Auch Temers PMDB ließ Federn, während die PSDB ihren Einfluss auf kommunaler Ebene ausbauen konnte.

Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 01.11.2016, S. 7, Link