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Cliffhanger im Politdrama

Der Zombie auf dem Präsidentensessel hat Zeit gewonnen. Das Oberste Wahlgericht des Landes (TSE) entschied am vergangenen Freitag mit vier gegen drei Stimmen, dass es bei der Wahlkampagne zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2014 mit rechten Dingen zuging. Den Klagen zu illegalen Finanzierungsmethoden und Machtmissbrauch folgte die Kammer damit nicht. Eine nachträgliche Annullierung der Kandidaturen von Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) und von Michel Temer von der rechtsopportunistischen PMDB hätte den Weg zur schnellen Amtsenthebung des jetzigen Staatschefs freigemacht. Der Prozess war auf Betreiben der konservativen PSDB hin angestrengt worden, deren Kandidat Aécio Neves damals in der Stichwahl Rousseff unterlag.

Staatschef Temer war bis zu dem als Amtsenthebungsverfahren verkleideten Putsch im vergangenen Jahr gegen die PT-geführte Regierung Rousseffs Vize gewesen. Mit gefangen – mit gehangen hätte es nun für ihn heißen können. Das juristische Manöver der PSDB stellte ursprünglich nur eine Ersatzvariante zur geglückten Konspiration im Parlament dar. Dort ist die Partei nun Koalitionär des Temer-Lagers und stellt in seiner Regierung vier Minister.

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Der Prozess erwischte den Präsidenten in einem prekären Moment. Mitte Mai war ein vom Boss des Fleischkonzerns JBS, Joesley Batista, mitgeschnittenes nächtliches Gespräch vom 7. März dieses Jahres mit Temer in dessen Residenz öffentlich geworden. Daraus wird deutlich, dass er und Batista Komplizen waren. Der JBS-Chef gehörte zu den Finanziers des Putsches und kaufte sich reihenweise Politiker, um Entscheidungen zugunsten seines Konzerns zu beeinflussen. Er weihte den Staatschef auch darin ein, wie er die Justiz manipulierte und dass er Schweigegeld an den wegen Korruption im großen Stil in Haft sitzenden früheren Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha zahle. Cunha war Strippenzieher im konservativ beherrschten Kongress und dirigierte dort den Coup gegen Rousseff. Batistas Lauschangriff war Bestandteil eines für den JBS-Konzern erschwinglichen Deals mit den Strafverfolgungsbehörden.

Nicht besser machte es Temers Lage, dass auch noch der vom Präsidenten als sein Gewährsmann benannte PMDB-Abgeordnete Rodrigo Rocha Loures von der Polizei dabei gefilmt worden war, wie er einen von Batista mutmaßlich an Temer adressierten Geldkoffer mit 500.000 Reis (umgerechnet 135.000 Euro) ins Trockene brachte. Hops genommen, beginnt Rocha Loures nun zu plaudern. Dabei wird deutlich, dass das regelmäßige Einsammeln von Schmiergeldern bei Unternehmern Teil seiner Stellenbeschreibung war.

Temers Watergate war für die Leitmedien des Globo-Konzerns der Anlass, eine 180-Grad-Wendung zu vollziehen und ihren bisherigen Schützling regelrecht an die Wand zu nageln. Mit Skandalchroniken und neuen Enthüllungen erhöhen sie den Druck. Nicht mehr ihn, sondern die neoliberalen „Reformen“ wollen sie retten. Doch ein Rücktritt kommt für Temer nicht in Frage – wer geht schon freiwillig in den Knast?

Getreu der Maxime „Die Kader entscheiden alles“ hatte er für den Prozess beim TSE vorgesorgt. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Berufung von Gilmar Mendes, eines reaktionären, von Ethik unbelasteten Juristen, zu dessen Präsidenten. Zwei weitere Mitglieder des Gerichts waren ebenfalls erst von Temer berufen worden. Personalpolitik, die aufging. Das Urteil war politisch motiviert. Mendes begründete sein Votum mit dem Erhalt der Stabilität des Staates. Man dürfe nicht ständig Präsidenten austauschen. Temer würde gern austauschen: den für Korruption zuständigen Obersten Richter Edson Fachin, auf dessen Vita er den Geheimdienst Abin ansetzte, und Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot, der stets mit einer Pistole unter dem Kissen schläft und der den Präsidenten anklagen möchte. Hält sich Temer bis September im Amt, kann er sich Janots Nachfolger aussuchen.

Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in: junge Welt, 14.06.2017, Seite 6, Link