Eine Staatsgewalt führt er am Nasenring durch die Manege: Renan Calheiros erhält Sonderrechte. Der vom Richter des Obersten Bundesgerichts (STF) Marco Aurélio am Montag suspendierte Senatspräsident bleibt in Amt und Würden. Das ist die spektakuläre Entscheidung des Plenums der Verfassungshüter.
Für die Rücknahme der Order stimmten am Mittwoch in Brasília sechs der neun anwesenden Mitglieder des elfköpfigen Richtergremiums. Calheiros ist Beschuldigter in einem Verfahren zu Geldwäsche und Veruntreuung. Unter anderem soll er Senatsmittel für Unterhaltsleistungen an eine außereheliche Tochter umgelenkt haben. Auch im Zusammenhang mit dem Petrobras-Korruptionsskandal taucht sein Name – neben denen faktisch aller Größen seiner Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) – in den Ermittlungsakten der Justiz auf.
Calheiros bestreitet jede Schuld. Eine offizielle Anklage und die Bekleidung eines politischen Amtes, welches ihn in der Rangfolge zum ersten potentiellen Nachrücker des Staatspräsidenten macht, ist nach der brasilianischen Rechtsordnung jedoch nicht miteinander vereinbar. In seiner Verfügung hatte Aurélio dies als schädlich für das Ansehen des brasilianischen Staates bezeichnet. Calheiros ignorierte die richterliche Anweisung und verweigerte mehrfach ihre Entgegennahme. Das Präsidium des Oberhauses stellte sich hinter ihn und erklärte, nur einen Beschluss des Obersten Gerichts insgesamt zu akzeptieren. Der offene Rechtsbruch der Senatoren stellte einen institutionellen Konflikt dar. Im Hintergrund wurde gefeilscht und um den Ausgang der Hängepartie gepokert. Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot zeigte sich besorgt und kritisierte, dass sich der Senatspräsident über das Recht stelle. Dessen Suspendierung ist vom Tisch, gleichzeitig wurde Calheiros durch das STF aus der Erbfolge ausgeschlossen und darf den Staatschef nicht vertreten. Auch einfache Geister dürften bezweifeln, dass diese salomonische Lösung verfassungskonform ist.
Bereits bevor die moralisch flexible Judikative bereitwillig kapitulierte, wurde Aurélio öffentlich von Kollegen attackiert. Der Robenträger und rechte Finsterling Gilmar Mendes, der eine aktive Rolle beim parlamentarischen Putsch gegen Brasiliens gewählte Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) spielte – welcher von hohen Justizkreisen gedeckt und mit betrieben worden war – forderte sogar die Amtsenthebung des übereifrigen Richters. Calheiros’ Parteifreund Michel Temer, der durch die Intrige an die Macht kam und bereits als Übergangspräsident im Mai eine Regierung der Oligarchie installiert hatte, beförderte Mendes an die Spitze des Obersten Wahlgerichts. Noch ein Garten, den in Brasilien künftig die Böcke bestellen.
Tatsächlich ist die Entscheidung, Calheiros an den Hebeln der Macht zu belassen, eine politische. Für Temer stellt er im Senat die Weichen. Seine Ablösung hätte die Verabschiedung von zentralen Projekten der Regierung behindert und verzögert. Als Vizepräsident wäre bei einem Abgang von Calheiros mit Jorge Viana ausgerechnet ein PT-Politiker zum Präsidenten der Kammer aufgerückt. Der zählt zwar zu deren pragmatischem Flügel, sprich ist ein windelweicher Sozi, wäre aber unter enormen innerparteilichen Druck geraten. In der Arbeiterpartei wird nach dem Machtverlust um Kurs und Führung hart gerungen. Viel Kritik kommt auch aus den sozialen Bewegungen. Viana zeigte keine großen Ambitionen auf den Chefsessel in der Kammer, stellte sich sogar hinter Calheiros. Den Spruch des STF lobte er. Er sei „sehr zufrieden“, weil dieser den Bruch zwischen den Institutionen gekittet habe. Gleichwohl spricht sich auch Viana wie die gesamte linke Opposition gegen das Sparpaket der Regierung aus. Mit der Verfassungsnovelle PEC 55 sollen für volle zwei Jahrzehnte die Staatsausgaben gedeckelt werden. Die Folgen für die soziale Entwicklung Brasiliens werden dramatisch sein. Von der rechten Mehrheit im Unterhaus wurde das Gesetz bereits bestätigt. Nun ist auch die für die kommende Woche vorgesehene Abstimmung im Senat nicht länger gefährdet.
Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 9.12.2016, S. 7, Link