Brasilien ist vom Weg in eine bessere Zukunft abgekommen. Das Jahr 2016 markiert einen tiefen Einschnitt. Nach dem politisch motivierten, juristisch als Amtsenthebung verkleideten Sturz der Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) hat eine Regierung ohne demokratische Legitimation die Macht übernommen.
Brasiliens Präsidialsystem ist nun nur noch eines auf Abruf. Das Kabinett von Michel Temer vertritt die Interessen der Oligarchie, der Couponschneider, eines korrupten Filzes aus Politik und Wirtschaft, der konservativsten und religiös-fundamentalistischer Sektoren. Eine soziale Konterrevolution wurde eingeleitet, welche die für Brasilien enormen Fortschritte, die bei der Bekämpfung von Armut und Diskriminierung während der 13jährigen PT-Ära erreicht wurden, bedroht. Nach einer Verfassungsänderung werden die Staatsausgaben für bis zu 20 Jahre gedeckelt, Milliarden werden für Bildung, Gesundheit und Soziales fehlen. Eine rigide Rentenreform ist in Vorbereitung.
Neue Allianzen
Eine scharfe Wende wurde auch in der Außenpolitik des Riesenlandes vollzogen. Der neue Chefdiplomat José Serra von der rechten Partei der Sozialdemokratie (PSDB) ist ebenso wie der frühere Informant der US-Botschaft Temer ein alter Freund Washingtons. Die Rolle Brasiliens auf der Weltbühne als lauterer Vermittler in Konflikten, das Engagement für Afrika und für die Integration Lateinamerikas und der Karibik in den Bündnissen Unasul, Mercosur und Celac werden unter Serra nicht fortgeschrieben. Brasiliens Beitrag zu einer multilateralen Weltordnung im Rahmen der BRICS-Staaten ist auf die Wahrung wirtschaftlicher Interessen zusammengestrichen.
Im Schulterschluss mit Mauricio Macris Argentinien und Mexiko unter Enrique Peña Nieto wird wieder auf neoliberale Konzepte und einen Ausbau des Freihandels mit den Zentren der kapitalistischen Welt gesetzt. US-Konzerne erhalten Zugriff auf die brasilianischen Ölvorkommen. Zum neuen Block zählt auch Paraguay, wo 2012 mit der Absetzung von Fernando Lugo ein kalter Staatsstreich nach ähnlichem Muster glückte, und das seitdem wieder ganz zum Gefolge der kontinentalen Führungsmacht USA zählt. Die Abgesandte des State Department Liliana Ayalde stieg nach dem Coup in Asunción auf den Posten der US-Botschafterin in Brasília auf. Offene Feindschaft übt Brasiliens Diplomatie nun gegenüber links geführten Regierungen in der Region. Das bekommt besonders der klamme Ölstaat Venezuela zu spüren, wo die Mannschaft von Nicolás Maduro der Krise nicht Herr wird und an die Wand zu fahren droht. Der Ausschluss der venezolanischen Außenministerin Delcy Rodríguez vom Treffen des Wirtschaftsbündnisses Mercosur Mitte Dezember in Buenos Aires spricht eine deutliche Sprache. Die Wende in Brasilien bedeutet für die Mehrheit seiner 200 Millionen Einwohner wie für die progressiven Kräfte weltweit einen epochalen Rückschritt.
Abwärtsspirale
Für Brasiliens Politik brachte 2016 nicht nur eine Richtungsumkehr, sondern den Sturz ins Chaos. Bereits sechs Minister der seit Mai im Amt befindlichen Regierung mussten wegen Verwicklung in Korruptionsfälle und Vetternwirtschaft abtreten. Die politische Klasse insgesamt ist weitgehend diskreditiert. Von der Justiz regelmäßig in die Öffentlichkeit lancierte Aussagen über Schmiergelder aus den Ermittlungen im Skandal um den Petrobras-Ölkonzern und den Odebrecht-Bauriesen betreffen Größen aus allen Lagern und die gesamte Führung der PMDB einschließlich Temer. Der Putsch gegen Rousseff verfolgte auch das Ziel, die eigene Haut zu retten. Die Mehrzahl der Parlamentarier bewahrt wegen diverser Anklagen nur ihre Immunität vor der Hand des Gesetzes. Eine schützende scheint über den skandalumwitterten Köpfen der PSDB zu schweben.
In und zwischen den Institutionen des Staates tobt auch nach der gemeinsamen Abstoßungsreaktion gegen die Linke ein Machtkampf. Temers ohnehin niedrige Popularität ist auf den Nullpunkt gesunken. Der Unterstützung der großen Medienkonzerne, auch der mächtigen Globo-Gruppe, kann sich der Staatschef nicht länger sicher sein. Diese hatten die Verschwörung des damaligen Vize von Rousseff mit der den Kongress beherrschenden rechten Opposition mit gesteuert, fuhren eine Dauerkampagne gegen die PT und mobilisierten die Mittelklassen zu Protesten gegen die angeblich von ihr verschuldete, angeblich völlig neue Dimension der Korruption und sonstige Miseren. Auch mit Temer stellt sich die versprochene wirtschaftliche Trendwende nicht ein, steigen die Preise und die Arbeitslosenzahlen. Für Globo und die PSDB als die authentische Politikverwalterin von Kapital und großstädtischer Oberschicht bleibt Temer weiter nur ein Übergangspräsident. Mehrere Szenarien zur Bestimmung eines neuen Staatschefs in einer indirekten Wahl durch das Parlament sind längst im Gespräch. Die Mehrheit der Bevölkerung hingegen wünscht echte Neuwahlen bereits vor dem regulären Termin 2018. Der Favorit dabei hieße wieder einmal Luiz Inácio Lula da Silva. Der populäre PT-Politiker, der 2003 als erster Arbeiter in das höchste Amt des Staates gewählt wurde, wird von parteiischen Ermittlern mit einer Serie falscher Anklagen überzogen, um ihn zu stigmatisieren und ihm das passive Wahlrecht entziehen zu können. Seine Ernennung zu Rousseffs Kabinettschef im vergangenen März, als Befreiungsschlag gedacht, wurde von Bundesrichter Sérgio Moro ungeahndet mit Geheimdienstmethoden sabotiert.
Putsch mit Ansage
Mehr als ein Jahr lang wurde von politischen Strippenziehern im Hintergrund mit Unterstützung hoher Juristen am richtigen Dreh für das Impeachment gefeilt. Rousseff hatte nach ihrer Wiederwahl im Oktober 2014 im Stechen gegen PSDB-Präsident Aécio Neves ihren Stellvertreter politisch rasch abgemeldet. Ende 2015 warf Temer mit einem eigenen Programm „Eine Brücke in die Zukunft“ den Fehdehandschuh. Die PMDB nahm Kurs auf den im März 2016 vollzogenen Koalitionsbruch. Das hinter der PSDB versammelte Lager hatte die Niederlage an den Wahlurnen ohnehin von Beginn an nicht als endgültig akzeptiert. Ein antikommunistisch paranoider Hass-Mob im Internet gegen die Menschen aus den PT-Hochburgen im Nordosten, gegen Kuba, Venezuela und die sozialen Bewegungen war und ist Teil der Polarisierung der Gesellschaft. Zwei Welten prallen in Brasilien aufeinander. In einer davon lebt die Herrenhausmentalität fort.
Die Anklage gegen Rousseff wegen angeblicher Haushaltstricks war so fadenscheinig wie für den Ausgang des Verfahrens bedeutungslos. Der wichtigste Protagonist des Impeachments im Unterhaus, Parlamentspräsident Eduardo Cunha von der PMDB, wurde erst nach erfolgreichem Abschluss seiner Mission aufgrund von Falschaussagen vor dem Petrobras-Untersuchungsausschuss geschasst. Sein Enthüllungsbuch darf der evangelikale Frömmler nun im Knast von Curitiba weiterschreiben. Die Millionen, die er und seine Frau auf Schweizer Konten parkten, muss er dem Staatsanwalt erklären und seine Porschesammlung staubt im Polizeidepot ein. Eng ist es auch für Temers rechte Hand im Senat geworden: Dessen Präsident Renan Calheiros, der Veruntreuung öffentlicher Mittel beschuldigt, konnte Anfang Dezember nur durch einen politischen Kraftakt und das Verbiegen des Rechts durch das Oberste Gericht selbst im Amt gehalten werden.
Die PT als größte linke Partei Lateinamerikas zeigte sich gegenüber dem Komplott hilflos. Nach der mit dem Votum des Senats am 31. August endgültig gewordenen Amtsenthebung von Rousseff folgten enorme Einbußen, auch in ihrem traditionellen Wählerspektrum, bei den landesweiten Kommunalwahlen im Herbst. Den Streit über Richtung und Führung der PT soll erst ein Kongress im kommenden Jahr entscheiden. Einfluss gewonnen haben andere Linkskräfte wie die PSOL und die Kommunisten (PC doB). Brasiliens traumatisierte Linke steht vor der Herausforderung, sich neu zu formieren.
Von Peter Steiniger, erschienen unter dem Titel „Krieg der Welten“ in: junge Welt vom 22.12.2016, S. 6, Link