Der Proteststurm hat noch einmal an Stärke zugelegt: Hunderttausende waren am Donnerstag in Rio de Janeiro und São Paulo auf der Straße, mehr als eine Million Teilnehmer insgesamt wurden bei neuen Demonstrationen für ein gerechteres Brasilien in etwa hundert Städten im ganzen Land gezählt. An etlichen Orten kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Polizeikräften mit zum Teil bürgerkriegsähnlichen Zuständen und zahlreichen Verletzten.
In Ribeirão Preto im Bundesstaat São Paulo wurde ein 18jähriger getötet, als ihn ein Autofahrer an einer von Demonstranten errichten Barrikade mit seinem Wagen erfasste. Präsidentin Dilma Rousseff (Arbeiterpartei – PT) verschob eine Auslandsreise, um sich am Freitag mit ihrem Kabinett in einer Krisensitzung zu beraten.
Schon unmittelbar vor den größten politischen Manifestationen in Brasilien seit zwei Jahrzehnten hatte die Bewegung einen konkreten Erfolg errungen: Die Erhöhungen der Fahrpreise im Nahverkehr, Auslöser der Auflehnung, wurden eilig wieder rückgängig gemacht oder die Tarife sogar gesenkt. Von São Paulo aus hatten sich die Proteste nach schweren Polizeiübergriffen rasant fortgepflanzt und zu einem wahrlichen Volksaufstand ausgeweitet. Die Bewegung für den Nulltarif (Movimento Passe Livre – MPL) und weitere soziale Basisgruppen geben sich mit dem Teilsieg nicht zufrieden. Auch aus den Linksparteien, darunter der PT gab es Aufrufe, sich sichtbar an den Demonstrationen zu beteiligen. Neben die Fahrpreis-Forderung traten rasch weitere Themen. Brasilianer sind vielleicht fußballverrückt, aber nicht blöd: Angeprangert werden Milliardenausgaben und Fehlinvestitionen im Zusammenhang mit der kommenden Fußball-WM und Olympia 2016. Für breite Unzufriedenheit sorgen Klientelismus und Korruption in Wirtschaft und Politik, bis in die PT hinein, sowie die Misere bei Gesundheit und Bildung.
In der Hauptstadt Brasília waren am Donnerstag die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden. An der Ost- West-Achse Eixo Monumental errichtete die Polizei Absperrungen, um die Demonstranten vom Congresso Nacional, dem Parlamentsgebäude, diesmal fernzuhalten. Etwa 30 000 Menschen beteiligten sich am Protestzug durchs Regierungsviertel. Am Palácio do Itamaraty, Sitz des Außenministeriums, eskalierte die Situation, Feuer brannten, die Polizei schoß mit Gummischrot und Tränengas. Besonders brutal war das Vorgehen der Krawalleinheiten in Rio de Janeiro, wo sich am Rande der größten Manifestation des Tages schwere Straßenschlachten am Amtssitz von Bürgermeister Eduardo Paes abspielten. Erneut ist auch von Polizeiprovokateuren die Rede. In São Paulo durften viele Angestellte im Geschäftsviertel um die Marschstrecke Avenida Paulista früher nach Hause gehen. Hier blieb es weitgehend friedlich. In den Mittelpunkt der Proteste rückt mehr und mehr eine umstrittene Verfassungsänderung. Kritiker sehen in der Vorlage „PEC 37“, welche die Zuständigkeit für die Untersuchung von Verdachtsfällen bei Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Bestechung im großen Stil den zentralen staatlichen Behörden aus der Hand nehmen möchte, einen Vorschub für Straflosigkeit bei solchen Verbrechen. Impunidade, não! – Nein zur Straflosigkeit! ist eine der neuen populären Losungen. Die nächste Etappe hat begonnen.
Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 22.06.2013, Nr.142, S.1, Link