Gegen die Politik des neoliberalen Ausverkaufs: Am 28.7. erlebte Rio de Janeiro mit dem Festival Lula Livre eine große Demonstration für eine linke Antwort auf die Krise. Foto: Midia NINJA
Anfang Oktober entscheiden die brasilianischen Wähler nicht nur über ihr nächstes Staatsoberhaupt. Neu gewählt werden auch die 513 Abgeordneten des Parlaments und zwei Drittel der Mitglieder des Senats, des Oberhauses des Nationalkongresses. Außerdem die Gouverneure und Volksvertretungen aller 26 Bundesstaaten und des Bundesdistrikts mit der Hauptstadt Brasília.
Für die große politische Weichenstellung entscheidend ist nach dem in der Verfassung verankerten Präsidialsystem, wer im Rennen um die gelbgrüne Schärpe vorne liegt. Doch Brasiliens Magna Carta von 1988 – das Regelsystem nach der zivil-militärischen Diktatur (1964-1985) – ist seit dem kalten Putsch vor zwei Jahren Makulatur. Ohnehin berührt Brasiliens fragile Demokratie nur die Oberfläche der Gesellschaft. Begleitet von einer Kampagne der mächtigen Konzernmedien setzte damals die Mehrheit im Kongress die 2014 gewählte Präsidentin, Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT), per Amtsenthebungsverfahren ab. Die Anklagen waren fadenscheinig, hohe Justizkreise standen Pate beim politischen Umsturz von rechts.
Ins höchste Amt rückte Michel Temer nach, Rousseffs bis dahin nur mit großem Ego, aber ohne viel Macht ausgestatteter, aus wahltaktischen Gründen mit ins Boot genommener, Vize auf. Der „traditionelle Politiker“ (wie man diese Sorte in Brasilien nennt) von der konservativ-opportunistischen Allzweckpartei Demokratische Bewegung (MDB) – blass, doch mit allen Wassern gewaschen – ist bis zum Hals in die branchenüblichen Korruptionsskandale verwickelt. Vor einem Prozess bewahrt ihn bislang nur die Immunität, die er sich im Kongress mit öffentlichen Geldern bei den Lobbies, allen voran der der Latifundisten, zusammenkaufte. Die Figur Temer selbst ist ein Platzhalter. Der Eintrag zu Temer wird im Buch der Geschichte nur eine kurze, doch bittere Glosse sein. Denn seine Regierung im Dienste der reichen Elite, in der auch die 2014 zum vierten Mal im Folge bei Präsidentschaftswahlen der PT unterlegene großbürgerliche PSDB Schaltstellen besetzt, eliminierte radikal Errungenschaften und soziale Programme aus der linken Ära. An deren Stelle traten unverdünnt neoliberale Konzepte. Verkauft wurden diese mit den Versprechungen, einen Aufschwung herbeizuführen (Brasilien bekam es seit 2013 mit den Folgen der vor einem Jahrzehnt von den Jongleuren an den internationalen Finanzmärkten ausgelösten Krise zu tun) und im großen Stil neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Doch mit einer Wende zum Besseren ist es Essig im Land am Zuckerhut. Statt dessen rutscht Brasilien immer tiefer in die soziale, ökonomische und institutionelle Krise. Das Leben wird zunehmend teurer, die nackte Armut breitet sich aus. Nach einer Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Ibope, in Auftrag gegeben vom Industriellenverband CNI, bewerteten Ende Juni vier von fünf Brasilianern ihre Regierung „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Die Sympathiewerte für Temer selbst sind unterirdisch und einstellig. Besser geht es da dem Mann, dessen Kandidatur das neoliberale Projekt wieder in Frage stellen würde. Der frühere Präsident Luiz Inácio Lula da Silva liegt, wie in allen Umfragen aus den vergangenen Monaten, auch bei Ibope mit 33 Prozent weit vor allen anderen aus dem Kreis der wahrscheinlichen Bewerber. Er ist auch der einzige unter ihnen, der im Knast sitzt. Seit dem 7. April befindet er sich in Einzelhaft in einem Gefängnis der Bundespolizei in Curitiba, der Hauptstadt des südlichen Bundesstaates Paraná. Neben dem Verlust der Freiheit droht ihm der Entzug des passiven Wahlrechts.
In einem konstruierten Prozess war der charismatische Politiker und Mitgründer der Arbeiterpartei Anfang des Jahres ohne eine Spur von Beweisen wegen angeblicher Korruption zu zwölf Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Die Behandlung von Einsprüchen seiner Verteidiger gegen das Urteil wird vom Obersten Gericht unter dem Vorsitz seiner sinistren Präsidentin Cármen Lúcia verschleppt. Auch in diesem Gremium ist die Auseinandersetzung mit dem Fall Lula eine im Kern eine rein politische. Der ihm angehörende Richter Marco Aurélio de Mello bezeichnete jüngst die Haft des PT-Kandidaten öffentlich als Verfassungsbruch.
In Brasilien und international kämpft eine Solidaritätsbewegung für Lulas Freilassung. Der Favorit des brasilianischen Volkes fordert seine vollständige Rehabilitierung und lehnt Deals im Hinterzimmer mit der Justiz – wie eine Entlassung in den Hausarrest mit elektronischer Fußfessel – ab. Er sei ja „keine Brieftaube“, ließ der Mann wissen, der mit seinem Kampf gegen die Armut und einer kooperativen und selbstbewussten Außenpolitik Brasilien weltweit Achtung verschaffte.
In einem Artikel für die traditionsreiche, in Rio de Janeiro erscheinende Zeitung Jornal do Brasil ging Lula nach mehr als 80 Tagen im Gefängnis auf die geopolitischen Hintergründe des Putsches ein. Die sieht er vor allem bei den Begehrlichkeiten, die weiter nördlich vor einem Jahrzehnt durch die Entdeckung gewaltiger Ölvorkommen vor Brasiliens Küste geweckt wurden. Für die Ausbeutung der Pre-Sal-Lagerstätten verfolgten die Regierungen von Lula und Dilma Rousseff Pläne, die strategisch angelegt waren und sich an den nationalen Interessen orientierten. Die eigene Wirtschaft wurde gefördert, mit China und Russland die Kooperation vertieft. Der überwiegend staatliche Ölkonzern Petrobras erhielt gesetzlich verbriefte Privilegien, auch Häfen, Maschinenbau und Zulieferindustrie profitierten. Aus den satten Gewinnen der Geschäfte – ein moderates halbes Prozent davon versickerte nach seriösen Schätzungen im seit Jahrzehnten gewachsenen Filz der Korruption–sollte eine feste Quote für Bildung, Gesundheit, Wissenschaft und Forschung im Staatshaushalt landen. Dank der bis heute noch unersetzlichen Ressource Öl, ohne das im modernen Wirtschaftsleben kaum etwas läuft, war Brasilien dabei, ein „Land der Zukunft“ zu werden.
Washington reagierte umgehend. Die vierte Flotte der Navi mit Operationsgebiet Südatlantik wurde bereits 2007 reaktiviert, Brasilien zu einem Schwerpunkt US-amerikanischer Geheimdienstaktivitäten, wie die Enthüllungen des Recherchenetzwerkes Wikileaks vor wenigen Jahren offenlegten. Während das Interesse der Öffentlichkeit auf die Fußball-WM in Russland gelenkt war, stimmte Ende Juni eine einfache Mehrheit im Abgeordnetenhaus in Brasília dafür, dass siebzig Prozent des Gebiets mit erforschten Ölvorkommen – auf denen bisher Petrobras die Hand hatte – an ausländisches Kapital veräußert werden. Lula nennt dieses Gesetz „Hochverrat“. Die Putschisten, insbesondere zielt er dabei auf die PSDB, sieht er als Ausverkäufer, „die Brasilien den geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten unterordnen“.
Ohne sich darüber hinwegzutäuschen, dass die massive und dauerhafte Kampagne der großen Medien gegen die Linke nicht auch bei vielen kleinen Leuten Wirkung hinterlassen hat: Das historische Gedächtnis ist nicht ausgelöscht, ihre Lebenssituation macht immer mehr Brasilianern bewusst, dass die Dinge in die falsche Richtung laufen. Und so verkörpert Lula für Millionen heute eine Hoffnung, die auch ein sechster Titel für die Seleção nicht toppen kann. Am 10. August sagen die Gewerkschaften mit landesweiten Streiks und Kundgebungen „basta“ zur Demontage des Arbeitsrechts, zur Politik der Privatisierungen und des Ausverkaufs. Fünf Tage später wird die Arbeiterpartei den politischen Gefangenen Lula als ihren Kandidaten bei der obersten Wahlbehörde in Brasília registrieren. Das Endspiel einer dramatischen Phase des Kampfes um die Demokratie steht bevor.
Von Peter Steiniger, erschienen in: Rotfuchs, Ausgabe 247/248, August/September 2018, S.8