Zum Inhalt springen

Zwietracht im Herrenhaus

Seine Welt ist aus den Fugen. Nicht im schlimmsten Albtraum hätte sich der einstige Star der großbürgerlichen PSDB ein so grausames Urteil ausmalen können. Seit einer Woche bereits erleidet Aécio Neves nächtliches Ausgehverbot. Für den Lebemann aus Belo Horizonte kommt das der Höchststrafe nahe. Verhängt wurde es mit der knappen Mehrheit von drei gegen zwei Stimmen durch die erste Kammer des Obersten Gerichtshofs (STF). Richtig ausfliegen darf Neves, scheidender Präsident jener Partei, deren Mitglieder wegen des Vogels, der ihr Symbol ist, Tucanos genannt werden, selbst bei Tag nicht. Denn auch den Pass hat man ihm genommen. Der Urteilsspruch verbannt den Politiker zudem von seinem Sitz im Senat. Es soll zu seinem Besten sein: Statt Politik zu machen, könne sich Aécio, wie er nur genannt wird, nun ganz darauf konzentrieren, der Gesellschaft seine Unschuld zu beweisen, fand einer der Richter.

Immerhin bleibt Aécio ein weniger goldener Käfig weiter erspart. Den noch vom kürzlich ausgeschiedenen Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot eingebrachten Antrag, den Politiker in Untersuchungshaft zu nehmen, verwarf das Gremium. Auch eine förmliche Anklage durch das Gericht, vor dessen Schranken nur Bürger von Rang gelangen, steht weiter aus. Der Fall, die Vorwürfe lauten auf Korruption und Behinderung der Justiz, dreht sich um die Affäre, die Aécios politische Karriere bereits im Mai abrupt erdete. Damals erhielten Justiz und Öffentlichkeit Kenntnis von einem Gesprächsmitschnitt, in dem die PSDB-Größe den Chef des JBS-Fleischmultis Joesley Batista um 2 Millionen Real (umgerechnet mehr als eine halbe Million Euro) anschnorrte. Angeblich benötigte Neves das Geld, um seine Verteidigungskosten in diversen Verfahren, die gegen ihn laufen, zu decken. Ein Darlehen unter Gentlemen soll es gewesen sein.

Eigentlich business as usual, doch die milliardenschweren Batista-Brüder Joesley und Wesley steckten da gerade in einem weit größeren Deal – mit den Behörden. Als Kronzeugen sollten sie korrupte Politiker ans Messer liefern. Sie und ihr Konzern, der an der politischen Landschaftspflege nie gespart hatte, sollten im Gegenzug mit einem blauen Auge davonkommen. Mitte September landeten sie dann doch in Untersuchungshaft. Das lag wohl am dicksten Fisch, den die Fleischbarone serviert hatten, Staatspräsident Michel Temer von der rechtsopportunistischen PMDB. Mit Posten und Geld fischt derzeit Temer im Kongress nach Stimmen, damit er ihn auch gegen eine zweite Anklage aus dem Nachlass von Janot immun bleiben lässt. Aécios Platzverweis kommt für ihn zur Unzeit. Denn der steht für jenen Flügel der PSDB – die in Temers Regierung sitzt und sich gleichzeitig distanziert gibt – der den Präsidenten weiter aktiv stützt. Dieser Staatschef ist auch seine Schöpfung: Nach Neves’ Niederlage als Kandidat des rechten Lagers bei den Präsidentschaftswahlen 2014 gegen Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT startete er die Manöver und Intrigen, die zu Rousseffs Sturz im vergangenen Jahr führten.

thumbnail of jw-2017-10-04-Zwietracht im HerrenhausDoch nun muss Neves erst einmal den eigenen Kopf wieder aus der Schlinge ziehen. Dass ihm Kontaktverbot zu anderen Beschuldigten, darunter seiner Schwester Andrea, die als sein „Gehirn“ gilt, auferlegt wurde, macht die Sache nicht einfacher. Es gibt schwerwiegende Indizien, die Geldübergabe an einen Vertrauten hatte die Bundespolizei mitgefilmt. Am 18. Mai ordnete der oberste Richter Edson Fachin bereits einmal die Entfernung des in flagranti erwischten Politikers aus dem Senat an, der seitdem – und wohl für immer – den Parteivorsitz ruhen lässt. Da die Inhaftierung von Tucanos in Brasilien vollkommen unüblich ist, wurde entgegen dem Antrag des Generalstaatsanwalts auch hier darauf verzichtet. Bereits am 2. Juni durfte Neves wieder im Senat Platz nehmen. Dafür hatte Fachins STF-Kollege Marco Aurélio gesorgt. Von diesem stammte auch jetzt eine der beiden Stimmen gegen das Urteil. Aécio sei schließlich „gebürtiger Brasilianer, Familienoberhaupt“ und habe eine „lobenswerte politische Karriere“ absolviert. Der Ethikausschuss des Parlaments hat den Fall wohl aus ähnlichen Motiven bereits ad acta gelegt.

Die neue Entscheidung sorgt für heftige Dissonanzen zwischen den Gewalten im Staat. Der Senat sieht darin parteiübergreifend eine Kompetenzüberschreitung. Es soll verhindert werden, dass die Justiz noch mehr Macht an sich reißt. Der Senat will den Fall Neves selbst entscheiden. Damit kommt es zum offenen Konflikt.

Von Peter Steiniger, Lissabon. Veröffentlicht in: junge Welt, 04.10.2017, Seite 6, Link